Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907) Ferruccio Busoni Prepared by Christian Schaper In collaboration with (pre-coding pages 3–12) Maximilian Furthmüller Theresa Menard In collaboration with (pre-coding pages 19–22) Clemens Gubsch In collaboration with (pre-coding pages 23–28) Claudio Fuchs Jupp Wegner Digitale Edition (Fassung 1907) Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin Berlin Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften Essays Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst Christian Schaper Ullrich Scheideler Ferruccio Busoni Entwurf einer neuen Aesthetik der Tonkunst. Verlag C. Schmidl & Co., Triest, 1907 Deutschland Berlin Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv Mus. Hc 405 Buchblock mit 36 bedruckten Seiten. Das Exemplar ist gut erhalten. durchweg in Antiqua unbekannte Antiqua Geschrieben im Wesentlichen 1906 in Berlin. Gedruckt nicht vor November 1906 in Charlottenburg; erschienen bei C. Schmidl & Co., Triest. Exemplar aus der Königlichen Bibliothek Berlin. Weindel 2001

Erfassung von Briefen und Schriften von Ferruccio Busoni, ausgehend von Busonis Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz.

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Entwurf einer neuen AeÄsthetik der Tonkunst
Alle Rechte, besonders jene der Übersetzung, vorbehalten. Copyright by Ferruccio Busoni, 1907.
Alle Rechte, besonders jene der UeÜbersetzungen, vorbehalten. Copyright including right of performance by Ferruccio Busoni, Berlin 1907.
Entwurf einer neuen AeÄsthetik der Tonkunst. Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr? Ich weissß es nicht; ich will das Unbekannte! Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will darüber noch. Mir fehlt das letzte Wort. (Der <choice><orig>M</orig><reg>m</reg></choice>ächtige Zauberer.)

Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander gefügt, sind diese Aufzeichnungen in Wahr heit das Ergebnis von lange und langsam gereiften Überzeugungen.

In ihnen wird ein grössßtes Problem mit scheinbarer Unbefangenheit aufgestellt, ohne dass der Schlüssel zu seiner letzten Lösung gegeben wird; weil das Problem auf Menschenalter hinaus nicht – wenn überhaupt – lösbar ist.

Aber es begreift in sich eine unaufgezählte Reihe minderer Probleme, auf die ich das Nachdenken Dder jenigen lenke, die es betrifft. Denn recht lange schon hat man in der Musik ernstlichem Suchen nicht sich hingegeben.

Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Be wunderungswertes, und ich stellte mich stets in die erste Reihe, die vorüberziehenden Fahnenträger freudig zu begrüssßen; aber mir will es scheinen, dass die mannigfachen Wege, die beschritten werden, zwar in schöne Weiten führen, aber nicht – nach oben.

Der Geist eines Kunstwerkes, das Maassß der Empfindung, das Menschliche, das in ihm ist – sie bleiben durch wechselnde Zeiten unverändert an Werth; die Form, die diese drei aufnahm, die Mittel, die sie ausdrückten, und der Geschmack, den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoss, sie sind vergänglich und rasch alternd.

Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunstwerk wie im Menschen; technische Errungen schaften bewundert man, doch sie werden überholt, oder der Geschmack wendet sich von ihnen gesättigt ab. –

Die vergänglichen Eigenschaften machen das Moderne eines Werkes aus; die unveränderlichen bewahren es davor, altmodisch zu werden. Im Modernen wie im Alten gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und Unechtes. Eigentlich Modernes existiert nicht – nur früher oder später Entstandenes; länger blühend, oder schneller welkend. Immer gab es Modernes, und immer Altes. –

Die Kunstformen sind um so dauernder, je näher sie sich an das Wesen der einzelnen Kunstgattung halten, je reiner sie sich in ihren natürlichen Mitteln und Zielen bewahren.

Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der mensch lichen Pupille und auf die Farben; die Malerei degradiert, wenn sie die darstellende Fläche verlässt und sich zur Theaterdekoration oder zum Panoramabild kompliziert –

die Architektur, hat ihre Grundform, die von unten nach oben zu schreiten muss, durch statische Not wendigkeit vorgeschrieben; Fenster und Dach geben notgedrungen die mittlere und abschliessßende Ausge staltung; diese Bedingungen sind an ihr bleibend und unverletzbar; –

die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den sie in Worte kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und hat die grössßere Unab hängigkeit voraus:

aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig das Eine, nämlich die Abbildung der Natur und die Wiedergabe der menschlichen Empfindungen.

Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher geworden; sie haben durch Jahr tausende den Weg gefunden und beschreiben, wie ein Planet, regelmässßig ihren Kreis

Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und Eigenart sich immer wieder verjüngen und erneuern.

.

Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar gehen gelernt hat, aber noch geführt werden muss. Es ist eine jungfräuliche Kunst, die noch Nnichts erlebt und gelitten hat.

Sie ist sich selbst noch nicht bewusst dessen, was sie kleidet, der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähig keiten, die in ihr schlummern: wWiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel Schönes bieten kann, schon Vviele erfreuen konnte und dessen Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden.

Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zu stande der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer noch unabsehbaren Entwicklung, und wir, – wir sprechen von Klassikern und geheiligten Traditionen!

Tradition ist die nach dem Leben abgenommene Gips maske, die – durch den Lauf vieler Jahre und die Hände unge zählter Handwerker gegangen – schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten läßsst.

Und schon lange sprechen wir davon!

Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Gesetze vorgeschrieben – – – wir wenden die Ge setze der Erwachsenen auf ein Kind an, das die Ver antwortung noch nicht kennt!

So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigen schaft ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren Geschwistern auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst über den Haufen ge worfen würden. Das Kind – es schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füssßen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist – frei.

Freiheit ist aber Eetwas, was die Menschen nie völlig begriffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht erkennen noch anerkennen.

Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und hängen ihm Gewichte an. Das schwebende Wesen muss unanstössßig gehen, wie jeder Aandere; kaum, dass es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre, der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken Sonnenstrahlen zu brechen.

Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Natur-Wiederscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Unmaterialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Unkörperlichkeit nach; sie kann sich zusammen ballen und kann auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? –, und ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener Intensität, die vom Begriffe unabhängig ist.

Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschreiben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine Situation darstellen kann und der Dichter ein Temperament und dessen Evolutionen mühsam durch angereihte Worte mitteilt.

Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ne gation der Programmmusik aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Tonkunst.

Absolute Musik! Bereits im 18. Jahrhundert entstanden, war der Begriff absolute Musik Gegenstand musikästhetischer Diskurse des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wesentlich geprägt wurde die Formulierung 1854 durch Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen, nach welcher diejenige Musik als absolut zu bezeichnen ist, die sich unabhängig von außermusikalischen Elementen konstituiert und lediglich aus ihrer kompositorischen Anlage heraus legitimiert. Darüber hinaus ist nach Hanslick nur Instrumentalmusik absolut – eine Definition, die für Busonis Verständnis von absoluter Musik nicht hinreicht (Freiheit von den Bedingungen der Materie). Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik. Absolute Musik ist ein Formenspiel ohne dichterisches Programm, wobei die Form die Hauptsache sein soll. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den gött lichen Vorzug erhielt, zu schweben und von den Be dingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeich nung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen wie die Himmels erscheinung selbst, und der Instinkt leitet den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu verwenden, die in dem Inneren des Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Wiederhall erwecken, wie die Vorgänge in der Natur.

Absolute Musik ist dagegen etwas ganz nNüchternes, welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und Dominante, an Durch führungen und Codas.

Ich höre da den zweiten Geiger sich um eine Quart tiefer abmühen, den gewandteren ersten nach zuahmen, und einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen, wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte vielmehr die architektonische heissßen oder die symmetrische oder die eingeteilte, und sie stammt daher, dass einzelne Tondichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individu alität jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symme trischen Musik identifiziert und schließlich – da sie weder den Geist, noch die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten, die Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Religion erhoben. Die Ton dichter suchten und fanden diese Form als das geeig netste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie ent schwebten – und die Gesetzgeber entdecken und ver wahren Euphorions auf der Erde zurückgebliebenen Gewänder: Noch immer glücklich aufgefunden! die Flamme freilich ist verschwunden, Doch ist mir um die Welt nicht leid. Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen Zu stiften Gold- und Handwerksneid; Und kann ich die Talente nicht verleihen, Verborg’ ich wenigstens das Kleid. J. W. Goethe, Faust II; es spricht Mephistopheles in Gestalt des alten Weibes Phorkyas; Kontext dieser Stelle ist die Totenklage der Helena über ihren Sohn Euphorion.

Ist’s nicht eigentümlich, dass man vom Kom ponisten in Aallem Originalität fordert, und dass man sie ihm in der Form verbietet? Was Wunder, dass man ihn – wenn er wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. Mozart! den Sucher und den Finder, den grossßen Menschen mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm hängen wir; nicht aber an seiner Tonicka und Dominante, seinen Durch führungen und Codas.

Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen Revolutionsmenschen, dass er einen kleinen Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der grossßen Aufgabe, einen grossßen Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der Hammerklavier-Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse aussßer Acht lassen zu dürfen, und selbst unbewusst frei aufatmeten. Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift, an solchen Stellen Eetwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst, – man denke an die Überleitung zum letzten Satze der D moll d-Moll-Sinfonie –, und gleiches kann man von Brahms und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie behaupten.

Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten, wird ihre Haltung steif und konventionell, wie die eines Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.

Neben Beethoven ist Bach der Ur-Musik am verwandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken Zug von dem, was man Mensch und Natur überschreiben könnte;

Seine Passions rec-Rezitative haben das Menschlich-Redende, nicht Richtig-Deklamierte.

bei ihm gestaltet es sich am Uunbefangensten, weil er noch keine Vorgänger respektierte – (wenn auch bewunderte und sogar benützte) – und weil ihm die noch junge Er rungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig un endlich neue Möglichkeiten erstehen liessß.

Darum sind Bach und Beethoven

Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Empfindung (aus welcher seine revolu tionäre Gesinnung springt) und eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind gewiss jenen eines Klassikers entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven kein Meister im Sinne Mozarts oder des späteren Wagner, eben weil seine Kunst die Andeutung einer grössßeren, noch nicht vollkommen gewordenen, ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)

als ein Anfang aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abge schlossenheiten. Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und ihre Empfindung bleiben; und das be stätigt wiederum das zu Beginn dieser Zeilen gGesagte. Nämlich, dass die Empfindung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert nichts einbüssßen und dass Dderjenige, der ihre höchsten Höhen ersteigt, jederzeit über derdie Menge ragen wird.

Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Aus drucksform und ihre Freiheit. Wagner, ein germanischer Riese, der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte (Musikdrama, Deklamation, Leit motiv), ist dessentwegen nicht weiter steigerungsfähig. Seine Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst, weil er sie zur höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte; sodann, weil die selbstgeforderte Aufgabe derart war, dass sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte.

Esr gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung, wie ich einmal von Mozart sagte.

Die Wege, die uns Beethoven eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt werden. Sie mögen – wie Aalles im Weltsystem – nur einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen, dass der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. – Ein Kreis im grossßen Kreise.

Der Name Wagner führt zur Programm-Mmusik. Sie ist als ein Gegensatz zu der sogenannten absoluten Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so versteinert, dass selbst die Verständigen sich an den einen oder den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, aussßer und über den beiden liegende Möglich keit, anzunehmen. In Wirklichkeit ist die Programm- Mmusik ebenso einseitig und begrenzt, wie die absolut genannte. Anstatt architektonischer und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonicka- und Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zuweilen gar philo sophische Programm, diese Schiene, sich angeschnürt.

Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie ein Samen, seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzen-Ssamen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blättern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben von einander abweichend.

»– – – Beethoven, dont les esquisses thématiques onou élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les théèmes trouvés, semble par cela même en avoir établi tout lae deéve loppement –« (Vincent d’ JIndy in <persName key="E0300015">César Franck</persName>).

Selbst ein und dieselbe Pflanzengattung wächst an Ausdehnung, Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne muss sich anders entfalten, doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Harmonie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.

Das Motiv des Pprogrammmusikalischen Werkes hat die nämlichen Bedingungen in sich; es mußss aber – schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich nicht nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des Programms formen, vielmehr krümmen. Dergestalt, gleich in der ersten Bildung aus dem natur gesetzlichen Wege gebracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten Gipfel; wohin es nicht seine Organisation, sondern das Programm, die Handlung, die philosophische Idee absichtlich geführt.

Und wie primitiv mußss diese Kunst bleiben! Gewißss gibt es nicht mißsszuverstehende, tonmalende Ausdrücke – sie haben die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben –, aber es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen Teil der Tonkunst ausmachen. Das wWahrnehmbarste von ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nachahmung von Naturgeräuschen: Ddas Rollen des Donners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichtssinn entnommenen Nach bildungen, wie Blitzesleuchten, Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung des reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompetensignal als krieger isches Symbol, die Schalmei als ländliches Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des Schreitens, der Choral als Träger der religiösen Empfindung. Zählen wir noch das National-Charakteristische – National- Instrumente, National-Weisen – zum vVorigen, so haben wir die Rüstkammer der Programm-Mmusik erschöpfend besichtigt. Bewegung und Ruhe, Moll und Dur, Hoch und Tief in ihrer herkömmlichen Bedeutung ergänzen das Inventar. Das sind gut verwendbare Nebenhilfs mittel in einem grossßen Rahmen, aber allein genommen ebenso wenig Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen sind.

Und was kann schliessßlich die Darstellung eines kleinen Vorganges auf Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbarn – gleichviel ob in der angrenzen den Stube oder im angrenzenden Weltteile – mit jener Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?

Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände schwingen zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung, Erstarkung, Ermattung, ( (Beethovens letzte Quartette)), Entschluss (Wotan), Zögern, Niedergeschlagen heit, Ermunterung, Härte, Weichheit, Aufregung, Be ruhigung, das Überraschende, das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den inneren Wiederklang äussßerer Er eignisse, der in jenen Gemütsstimmungen enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen selbst: nicht die Freude über eine beseitigte Gefahr, nicht die Gefahr oder die Art der Gefahr, welche die Angst hervorruft; wohl einen Leidenschaftszustand, aber wiederum nicht die psychische Gattung dieser Leiden schaft, ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es, moralische Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit in Töne umzusetzen, oder gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit, durch sie aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufrieden heit, der seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden.? Das kommt daher, dass arm eine Form irdischer und gesellschaft licher Zustände ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist. Musik ist aber ein Teil des schwingen den Weltalls.

Daran kann ich wohl manche Nebenbetrach tung knüpfen: Der grössßte Teil moderner Theater-Mmusik leidet an dem Fehler, dass sie die Vorgänge, die sich auf der Bühne abspielen, wiederholen will, anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen, während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die Bühne die Illusion eines Gewitters vortäuscht, so ist dieses Ereignis durch das Auge er schöpfend wahrgenommen. Fast alle Komponisten bemühen sich jedoch, das Gewitter in Tönen zu be schreiben, welches nicht nur eine unnötige und schwächere Wiederholung, sondern zugleich eineein Ver säumnis ihrer Aufgabe ist. Die Person auf der Bühne wird entweder von dem Gewitter seelisch beeinflusst, oder ihr Gemüt verweilt infolge von Gedanken, die es stärker in Anspruch nehmen, unbeirrt. Das Gewitter ist sichtbar und hörbar ohne Hilfe der Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik verständlich machen.

Wiederum gibt es sichtbare Seelenzustände auf der Bühne, um die sich die Musik nicht zu kümmern braucht. Nehmen wir die theatralische Situation, dass eine lustige nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, erbitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die Musik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen; was die beiden Vorderen treiben und dabei empfinden ist, , ist ohne jede weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran betheiligen, das tragische Schweigen nicht brechen.

Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten Oper, welche die durch eine dramatisch- bewegte Sczene gewonnene Stimmung in einem ge schlossenen Stücke zusammenfasste und ausklingen liessß. (Arie.) – Wort und Gesten vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der Musik mehr oder weniger dürftig reczitativisch gefolgt; an dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Haupt sitz wieder ein. Das ist weniger äussßerlich, als man es jetzt glauben machen will. Wieder war es aber die verknöcherte Form der Arie selbst, die zu der Unwahrheit des Ausdrucks und zum Verfall führte.

Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herab stieg. Wo ihr droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrenm ursprünglichen schwebenden Zustand zu verhelfen.

Die Notation, die Aufschreibung, von Musik stücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvi sation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Porträt zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen. –

Die Gesetzgeber aber verlangen, dass der Vor tragende die Starrheit der Zeichen wiedergibt, und erachten die Wiedergabe für um so vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen hält.

Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen einbüssßt,

Wie sehr die Notation den Styil in der Musik beeinflusst, die Fantasie fesselt, wie aus ihr die Form sich bildete und aus der Form der CKonventionalismus des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A. Hoffmann, der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt.

Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das Traumhafte verloren und im Transczendentalen schwelgten, wie seine Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten – so würde man folgern – in der an sich traumhaften und transczendentalen Kunst der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen.

Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlafwachenden Bilder – Aalles, was er mit dem präczisen Wort schon so eindrucksvoll schilderte, das hätte er – man sollte denken – durch die Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen Hoffmanns bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literarischen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein übernommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten – zu dem noch der land läufige Opernstyil der Zeit das Seinige tut – aus dem Dichter einen Philister machen konnte. – Wie aber ein anderes Ideal der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft aus gezeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst.

das soll der Vortragende durch seine eigene wiederherstellen.

Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das wichtigste, sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus den alten Zeichen abgeleitet, sie bedeuten nun die Tonkunst selbst.

Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müsste ein und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß erklingen, so oft, von wem und unter welchen Bedingungen es auch gespielt würde.

Es ist aber nicht möglich, die schwebende, expan sive Natur des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegenteil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte. – Große Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück – wie sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten –, und immer nach den gegebenen Verhältnissen jener ewigen Harmonie.

Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht, behält der Gesetzgeber recht.

Notation (Sckription) bringt mich auf Transckrip tion: gegenwärtig ein recht missverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit Transckriptionen erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlassten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transckription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form und Klang mittel, für welche der Komponist sich entscheiden mußss, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.

Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit noch unbestimmbaren Neigungen geboren, entschließt er sich, oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschlußss getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Einfall oder vom Menschen manches Originale, das unverwüstlich ist, weiter be stehen: sie sind doch von dem Augenblick des Ent schlußsses an zum Typus einer Klasse herabgedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate, oder einem Konzert; der Mensch zum Soldaten oder Priester. Das ist ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten Transckription ist der Schritt verhältnismässßig kurz und unwichtig. Doch wird im Allgemeinen nur von der Zzweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, daßss eine Transckription die Originalfaßssung nicht zerstört, also eine Verlust dieser durch jene nicht entsteht. –

Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transckrip tion, und auch dieser kann – er mag noch so frei sich gebeärden – niemals das Original aus der Welt schaffen.

– Denn das musikalische Kunstwerk besteht, vor seinem Ertönen und nachdem es vorübergeklungen, ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und aussßer der Zeit, und sein Wesen ist es, das uns eine greifbare Vorstellung des sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität der Zeit geben kann.

Im Übrigen muten die meisten Klavier-Kkompo sitionen Beethovens wie Transckriptionen vom Orchester an; die meisten Schumann’schen Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier – und sind’s in gewisser Weise auch. –

Merkwürdigerweise steht bei den Buchstaben- Ttreuen die Variationenform in grossßem Ansehen. Das ist seltsam, weil die Variationenform – wenn sie über ein fremdes Thema aufgebaut ist – eine ganze Reihe von Bearbeitungen gibt, und zwar um so respektloser, je geistreicherer Art sie sind.

So gilt die Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original ändert; und es gilt die Veränderung, ob wohl sie das Original bearbeitet.

Musikalisch ist ein Begriff, der den Deutschen angehört, und die Anwendung des Wortes selbst, findet sich in dieser Sinn-Übertragung in keiner anderen Sprache. Es ist ein Begriff, der den Deutschen ange hört und nicht der allgemeinen Kultur, und seine Be zeichnung ist falsch und unübersetzbar. Musikalisch ist von Musik hergeleitet, wie poetisch von Poesie und physikalisch von Physik. Wenn ich sage: Schubert war einer der musikalischesten Menschen, so ist das dasselbe, als ob ich sagte: Helmholtz war einer der physikalischesten. Musikalisch ist: was in Rhythmen und Intervallen tönt. Ein Schrank kann musikalisch sein, wenn er ein Spielwerk enthält.

Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, wären die Sänger; weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man ihn berührt, ein nachgemachter musikalischer Mensch heißen.

Im vergleichen den Sinne kann musikalisch allenfalls noch wohl lautend bedeuten.

Meine Verse sind zu musikalisch, als daßss sie noch in Musik gesetzt werden könnten, sagte mir einmal ein bekannter Dichter. Spirits moving musically To a lutes well-tuned law. (Geister schwebten musikalisch zu der Laute wohlgestimmtem Satz) schreibt E. A. Poe; endlich spricht man ganz richtig von einem musikalischen Lachen, weil es wie Musik klingt.

In der angewandten und fast ausschliessßlich ge brauchten deutschen Bedeutung, ist ein musikalischer Mensch ein solcher, der dadurch Sinn für Musik be kundet, daßss er das Technische dieser Kunst wohl unterscheidet und empfindet. Unter Technischem ver stehe ich hier wieder den Rhythmus, die Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die Thematik. Je mehr Feinheiten er darin zu hören oder wiederzugeben versteht, für um so musikalischer wird er gehalten.

Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Be standteile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das Musikalische von höchster Bedeutung geworden. – Demnach müßsste ein Künstler, der technisch vollkommen spielt, für den meist musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit Technik nur die mechanische Be herrschung des Instruments meint, so hat man technisch und musikalisch zu Gegensätzen gemacht.

Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als musikalisch zu bezeichnen,

Diese Kompositionen sind aber so musikalisch, sagte mir einmal ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend fand.

oder gar von einem großen Komponisten wie Berlioz, zu behaupten, er wäre es nicht in genügendem Maße.

Mein Hund ist sehr musikalisch, habe ich allen Ernstes sagen gehört. Sollte der Hund über Berlioz gestellt werden?

Unmusikalisch ist der stärkste Tadel; er kennzeichnet den damit Be troffenen und macht ihn zum Geächteten.

Ein Schicksal, das auch mich betroffen hat.

In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für musikalische Freuden allgemein ist, wird diese Unter scheidung überflüssig, und das Wort dafür ist in der Sprache nicht vorhanden. In Frankreich, wo die Emp findung für Musik nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von den Übrigen einige aiment beaucoup la musique, oder ils ne l’aiment pas. Nur in Deutschland macht man eine Ehrensache daraus, musikalisch zu sein, daßs heißt nicht nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich sie in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren Gesetze einzuhalten.

Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewachen wohlmeinend seine Schritte, daßss es nicht auffliege, und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es ist noch so jung und ist ewig; die Zeit seiner Freiheit wird kommen. Wenn es aufhören wird, musikalisch zu sein.

Der Schaffende soll kein überliefertes Gesetz auf Treu und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber von vornherein als Ausnahme be trachten. Er müsste für seinen eigenen Fall ein ent sprechendes eigenes Gesetz suchen, formen und es, nach der ersten vollkommenen Anwendung, wieder zerstören, um nicht selbst bei einem nächsten Werke in Wiederholungen zu verfallen.

Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze aufzustellen, und nicht, Gesetzen zu folgen. Wer ge gebenen Gesetzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.

Die Schaffenskraft ist um so erkennbarer, je unab hängiger sie von Überlieferungen sich zu machen ver mag. Aber die Absichtlichkeit im Umgehen der Ge setze kann nicht Schaffenskraft vortäuschen, noch weniger erzeugen.

Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Vollendung. Und indem er diese mit seiner In dividualität in Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz.

So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine Ausdrucksform, daßss es zur Zeit nicht ein be kanntes Motiv gibt, auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv passte, so daßss es zu gleicher Zeit mit dem ersten gespielt werden könnte. Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren,

Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um scherzeshalber festzustellen, wie viele von den ver breiteten Musikstücken nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der IX. Symphonie gebildet waren. In wenigen Augen blicken hatten wir an fünfzehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter welche niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finales der fünften ein anderes als jenes, womit die zweite ihr Allegro ansagt? Und als das Hauptmotiv des III. Klavier<choice><orig>-K</orig><reg>k</reg></choice>onzerts, diesmal in Moll? –

enthalte ich mich jedes Beispiels.

Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am nächsten rückt, sind die Pause und die Fermate. Große Vortragskünstler, Improvisatoren, wissen auch dieses Ausdrucks-Wwerkzeug im höheren und ausgiebigeren Maße zu verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen, in dieser Umgebung selbst Musik, läßsst weiter ahnen, als der bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut vermag.

Zeichen sind es auch, und nichts anderes, was wir heute unser Tonsystem nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas von jener ewigen Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche Taschenausgabe jenes enczyklopä dischen Werkes; künstliches Licht anstatt Sonne. – Habt ihr bemerkt, wie die Menschen über die glänzende Beleuchtung eines Saales den Mund aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal stärkeren Mittags sonnenschein. –

Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer ge worden, als das als das, was sie bedeuten sollen und nur andeuten können.

Wie wichtig ist doch die Terz, die Quinte und die Ocktave. Wie streng unterscheiden wir CKonsonanzen und Dissonanzenda, wo es über haupt Dissonanzen nicht geben kann!

Wir haben die Ocktave in zwölf gleich von ein ander entfernten Stufen abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen mussten, und haben unsere Instrumente so ein gerichtet, daßss wir niemals darüber oder darunter oder dazwischen gelangen können. Namentlich die Tasten instrumente haben unser Ohr gründlich eingeschult, so daßss wir nicht mehr fähig sind, Anderes zu hören; – als nur im Sinne der Unreinheit. Und die Natur schuf eine unendliche Abstufung – unendlich! wWer weiß es heute noch? Die gleichschwebende 12stufige Temperatur, welche be reits seit ca. 1500 theoretisch erörtert, aber erst kurz vor 1700 princzipiell aufgestellt wurde (durch Andreas Werkmeister), teilt die Ocktave in zwölf gleiche Teile (Halbtöne, daher Zwölfhalbtonsystem) und gewinnt damit Mittelwerte, welche kein Intervall wirklich rein, aber alle leidlich brauchbar intonieren. (Riemann, Musiklexikon) Sub voce Temperatur; Busoni zitiert die 5. Auflage (1900), S. 1124.

So haben wir durch Andreas Werkmeister, diesem Werk meister in der Kunst, das Zwölfhalbtonsystem mit lauter un reinen, aber leidlich brauchbaren Intervallen gewonnen. Was ist aber rein und was unrein? Unser Ohr hört ein verstimmtes Klavier, bei welchem vielleicht reine und unbrauchbare Intervalle entstanden sind, als unrein an. Das diplomatische Zwölfer- System ist ein notgedrungener Behelf, und doch wachen wir über die Wahrung seiner Unvollkommenheiten.

Und innerhalb dieser zwölfteiligen Ocktave haben wir noch eine Folge bestimmter Abstände abgesteckt, sieben an der Zahl, und darauf unsere ganze Ton kunst gestellt. Was sagte ich, eine Folge? Zwei solche Folgen, für jeden Fuß eine, die Dur- und Moll- Skala. Wenn wir dieselbe Folge von Abständen von einer anderen der 12 Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine neue Tonart, und sogar eine fremde! Was für ein gewaltsam beschränktes System diese erste Verworrenheit ergab,

Man nennt es Harmonielehre.

steht in den Gesetzbüchern zu lesen: wir wollen es nicht hier wiederholen.

Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zwölfmal die beiden Siebenfolgen, aber wir verfügen in der Tat nur über zwei: die Durtonart und die Molltonart. Die anderen sind nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Transpositionen einen verschiedenen Charakter euntstehen hören: aber das ist Täuschung. In England, wo die hohe Stimmung herrscht, werden die bekanntesten Werke um einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert sind, ohne daßss ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu ihrer Bequem lichkeit ihre Arie, und laßssen, was dieser vorausgeht und folgt, untransponiert spielen.

Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten in drei verschiedenen Höhen der Notation her aus; die Stücke bleiben in allen drei Ausgaben voll kommen die nämlichen.

Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk herabschaut.

Könnte man eine Gegend, so weit das Auge reicht, um mehrere hundert Meter erhöhen oder vertiefen, das landschaftliche Bild würde dadurch nichts verlieren,, noch gewinnen.

Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die Moll-Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt – eine Einschränkung fordert die andere.

Man hat jeder der Bbeiden einen bestimmten Charak ter zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegensätze zu hören, und allmähligchg haben sie die Bedeutung von Symbolen erreicht – Dur und Moll – Maggiore e Minore – Befriedigung und Unbefriedigung – Freude und Trauer – Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter noch bis heute und übermorgen, abgezäunt. Moll wird in derselben Ab sicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauermarsch kann man heute nicht mehr komponieren, denn er ist einmal für alle schon vorhanden. Selbst der unge bildeteste Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch – irgend welcher! – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt den Unterschied zwischen einer Dur- und einer Moll-Sinfonie voraus. Wir werden von Dur und Moll beherrscht; wir stehen unter zwei Pantoffeln.

Seltsam daß, dass man Dur und Moll als Gegensätze empfindet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig heiterer nund ernster; und ein kleiner Pinsel strich genügt E, eines in das Aandere zu kehren. Der Übergang vom Einen zum Zeinen zum zweiten ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und rasch, so beginnen die Bbeiden unerkenntlich in einander zu flimmern. – Erkennen wir aber daß, dass Dur und Moll ein doppel deutiges Ganzes, und daß und dass die vierundzwanzig Tonarten nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußsst sein der Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von verwandt und fremd fallen ab – und damit die ganze verwickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.

Einheit der Tonart.

Sie meinen wohl, Tonart und Tonarten sind der Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?

Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes Ton-, Tonart- und Tonartensystem ist, in seiner Gesammtheit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten Strahls jener Sonne Musik am Himmel der ewigen Harmonie.

So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntems und Trägheit in des Menschen Weise und Wesen liegen – so sehr sind Energie und Opposition gegen Bestehen des die Eigenschaften alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt die Menschen, die gegen Fortschritt und AeÄnderungen widerspenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und ändert unabläßssig, aber in so gleichmäßiger und unwahrnehmbarer Be wegung, daßss die Menschen nur Stillstand sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt ihnen das Überraschende, daßss sie die Getäuschten waren.

Deshalb erregt der Reformator AeÄrgernis bei den Menschen aller Zeiten, weil seine AeÄnderungen zu un vermittelt und vor Aallem weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator ist – im Vergleich zur Natur – un diplomatisch, und es ist ganz folgerichtig, daßss seine Änderungen erst dann Gültigkeit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten Sprung wieder auf ihre feine, unmerkliche Weise eingeholt hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit gleichen Schritt ging, indessen die Übrigen zurückblieben. Und da mußss man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung über die versäumte Strecke zu springen. Ich glaube, daßss die Dur- und Moll-Tonart und ihr Trans positionsverhältnis, daßss das Zwölfhalbtonsystem einen solchen Fall von Zurückgebliebenheit darstellt.

Daßss schon Eeinige empfunden haben, wie die Intervalle der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden können, ist aus vereinzelten Momenten bei Liszt, neuerdings bei Debussy und seinen Gefährten, selbst bei R. Straußss zur Erscheinung gekommen. Der Drang, und die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus. Doch scheint’s mir nicht, daßss eine bewußsste und geordnete Vorstellung dieser erhöhten Ausdrucks mittel in ihnen sich geformt habe.

Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir, durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 verschiedene Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (innerhalb der Oktave C–C) be greifen den größten Teil der bekannten 24 Tonarten, außerdem aber eine Reihe neuer Tonarten, von eigen artigem Charakter. Damit ist aber der Schatz nicht erschöpft, denn die Transposition jeder einzelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen, uund überdies die Vermischung zweier solcher Tonarten in Harmonie und Melodie. Ob die Zahl 113 hier eine Übertreibung Busonis darstellt, ist schwer zu sagen. Eine genauere algorithmische Betrachtung des Problems zeigt, dass unter Zuhilfenahme aller zwölf gleichstufigen Halbtöne innerhalb einer Oktave 729 siebentönige aufsteigende Skalen kombiniert werden können. Nach Eliminierung der in der Intervallstruktur identischen Skalen und Analyse der Tonleitern bezüglich nicht leitertypischer Elemente (z. B. chromatischer Passagen und aufeinanderfolgender Terzen) bleiben 59 siebentönige aufsteigende Skalen übrig. Mit 113 ist Busoni weder nahe an der einen noch an der anderen Zahl, was die Frage aufwirft, welche Ansprüche Busoni an eine solche von ihm neu erdachte Leiter überhaupt hat.

Die Skala c des es fes ges as b c klingt schon bedeutend anders, als die des-moll Moll-Tonleiter wenn man c als ihren Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen C-dur Dur-Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe Tonleiter abwechselnd vom A-moll Es-dur und C-dur a-Moll-, Es-Dur- und C-Dur-Dreiklang gestützt, und man wird sich der angenehmsten Überraschung über den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren können.

Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen c des es fes g a h c // c des es f ges a h c // c d es fes ges a h c // c des e f ges a b c // oder gar: c d es fes g ais h c // c d es fes gis a h c // c des es fis gis a b c einreihen mögen?

Welche Reichtümer sich damit für den melodischen und harmonischen Ausdruck dem Ohre öffnen, ist nicht sogleich zu übersehen; eine Menge neuer Möglichkeiten ist aber zweifellos anzunehmen und auf den ersten Blick erkennbar.

Mit dieser Darstellung dürfte die Einheit aller Ton arten endgiültig ausgesprochen und begründet sein. Kaleidoskopisches Durcheinanderschütteln von zwölf Halbtönen in der Drei-Spiegelk-Kammer des Geschmacks, der Empfindung und der Intention: das Wesen der heutigen Harmonie.

Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange: denn alles verkündet eine Umwälzung und einen nächsten Schritt zu jener ewigen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, daßss in ihr die Abstufung der Oktave unendlich ist, und trachten wir, der Unendlich keit um ein Weniges uns zu nähern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an die Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung. Wer, wie ich es gethan, damit, wenn auch bescheiden, experimentierte und – sei es mit der Kehle oder auf einer Geige – zwischen einem Ganzton zwei gleichmäßig abstehende Zwischentöne einschaltete, das Ohr und das Treffen übte, der wird zur Einsicht gelangt sein, daßss Drittel töne vollkommen selbständige Intervalle von ausge prägtem Charakter sind, die mit verstimmten Halbtönen nicht zu verwechseln sind. Es ist eine verfeinerte Chromatik, die uns vorläufig auf der ganztönigen Skala zu basieren scheint. Führten wir dieselbe unvermittelt ein, so verleugneten wir die Halbtöne, verlören die kleine Terz und die reine Quinte, und dieser Ver lust würde stärker empfunden, als der relative Gewinn eines 18 -Drittelton-Systems.

Es ist aber kein Grund ersichtlich, seinetwegen mit den Halbtönen aufzuräumen. Behalten wir zu jedem Ganzton einen Halbton, so erhalten wir eine zweite Reihe von Ganztönen, die um einen halben Ton höher steht, als die erste. Teilen wir diese zweite Reihe von Ganztönen in Drittelteilen ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren Reihe ein entsprechender Halbton in der oberen.

Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem ent standen, und daßss auch Sechsteltöne einstmals reden werden, darauf können wir vertrauen. Das Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll aber vorerst das Gehör mit Dritteltönen füllen, ohne auf die Halbtöne zu verzichten.

Um es zusammen zufaßzufassen: Wir stellen entweder zwei Reihen Dritteltöne, von einander um einen halben Ton entfernt, auf; oder: dreimal die übliche 12 -Halbton- Reihe im Abstande von je einem drittel Ton.

Nennen wir, um sie irgendwie zu unterscheiden, den ersten Ton C und die beiden nächsten Dritteltöne Cis und Des; den ersten Halbton (klein-)c und seine folgenden Drittteile cis und des; – die untenstehende Tabelle erklärt alles Fehlende.

Zwei Dritteltonskalen im Halbtonabstand, in Form von zwei Systemen mit Ganztonreihen (von c bis ais bzw. cis bis h) und Drittelunterteilung der Ganztöne.

Der erste Ausweg zu einer Notation wäre: 6sechs Linien zu ziehen und die Linien für die Ganztöne, die Zwischen nume für die Halbtöne zu benützen:

Sechsliniensystem mit Ganztonabstand von Linie zu Linie (Linienzwischenraum für Halbtöne).
Bezeichnung der Dritteltöne im Sechsliniensystem, pro Tonhöhe dreifach: mit Erniedrigungszeichen, ohne Akzidenz und mit Erhöhungszeichen. Sodann die Dritteltöne mit ♭ und ♯ zu bezeichnen: u. s. w.usw.

Die Frage der Notation halte ich für nebensächlich. Wichtig und drohend ist dagegen die Frage, wie und worauf diese Töne zu erzeugen sind. Es trifft sich glücklich, daßss ich während der Arbeit an diesem Auf satz, eine direkte und authentische Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage in einfacher Weise löst. Es ist die Mitteilung von Dr. Thaddeus Cahills Erfindung.

New Music for an old World. <persName key="E0300018">Dr. Thaddeus Cahill’s</persName> <lb/>Dynamophone, an extraordinary electrical Invention for producing <lb/>scientifically perfect music by Ray Stannard Baker. Mc. Clure’s Magazine, July 1906. Vol. XXVII, No. 3.

Über diesen transczendentalen Tonerzeuger berichtet Mr. Baker des Weiteren: Der folgende Text ist eine freie Paraphrase Busonis, kein direktes Zitat des Artikels von Ray Stannard Baker. … Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Tongebung bei allen Instrumenten, führte Dr. Cahill zum Nachdenken. Material, Indisposition, Temperatur, klimatische Zustände beeinträchtigen die Zuverläßssigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die Macht über den absterbenden Klang der Saite, von dem Augenblick an, wo die Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung an der festgehaltenen Note nichts ändern. Dr. Cahill ersann die Idee eines Instruments, welches dem Spieler die absolute Kontrolle über jeden zu erzeugenden Ton und über dessen Ausdruck gewährte. Er nahm sich die Theorien Helmholtz’ zum Vorbild, die ihn lehrten, daßss die Verhältnisse der Zahl und der Stärke der Obertöne zum Grundton den Ausschlag über den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente geben. Demnach konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grundton schwingen läßsst, eine Anzahl supplemänteentärer Apparate, von welchen jeder einen der Obertöne erzeugt; und konnte solche in beliebiger Anordnung und Stärke dem Grundton zuhäufen. So ist jeder Klang einer mannigfaltigsten Charakteri sierung fähig; sein Ausdruck auf das empfindlichste dynamisch zu regeln; die Stärke vom fast unhörbaren Pianissimo bis zur uner träglichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das Instrument von einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die Fähigkeit bewahrt, der Eigenart eines Künstlers zu folgen.

Eine Reihe solcher Klaviaturen, von mehreren Spielern ge spielt, kann zu einem Orchester zusammengestellt werden.

Der Bau des Instrumentes ist außerordentlich umfangreich und kostspielig, und sein praktischer Wert müßsste mit Recht ange zweifelt werden. Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, von einer Zentralstelle aus, nach allen den mit Drähten verbundenen Plätzen, selbst auf große Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu versenden; und gelungene Experimente haben erwiesen, daßss auf diesem Wege weder von den Feinheiten noch von der Macht der Töne etwas eingebüßt wird. Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang erfüllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals versagenden Klang, unsichtbar, mühelos und unermüdlich. Dem Bericht, dem ich diese Nachrichten entnehme, sind authentische Photographien des Appa rates beigegeben, welche jeden Zweifel über die Wirklichkeit dieser allerdings fast unglaublichen Schöpfung beseitigen. Der Apparat sieht aus wie ein Maschinenraum.

Dieser Mann hat einen umfangreichen Apparat konstruiert, welcher es ermöglicht, einen elektri schen Strom in eine genau berechnete, unalterable An zahl Schwingungen zu verwandeln. Da die Tonhöhe von der Zahl der Schwingungen abhängt und der Apparat auf jede gewünschte Zahl zu stellen ist, so ist durch diesen die unendliche Abstufung der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem Zeiger eines Quadranten korrespondiert.

Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fortgesetzte Erziehung des Ohres, werden dieses ungewohnte Material einer heranwachsenden Generation und der Kunst gefügig machen.

Welche schöne Hoffnungen und traumhafte Vor stellungen erwachen für sie! Wer hat nicht schon im Traume geschwebt? Und fest geglaubt, daßss er den Traum erlebe? – Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurück zuführen; befreien wir sie von architektonischen, akustischen und aeästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfin dung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes, als die Natur als die Natur, in der menschlichen Seele abgespiegelt und von ihr wieder zu rückgestrahlt; ist sie doch tönende Luft und über die Luft hinaus reichend; im Menschen selbst ebenso universell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann sich zusammenballen und auseinanderfließen, ohne an Intensität nachzulassen.

In seinem Buche Jenseits von Gut und Böse spricht Nietzsche:

Das Zitat umfasst den gesamten Abschnitt Nr. 255. Busonis Zitierpraxis (bzw. die des Verlages) folgt in Orthographie und Interpunktion den bis 1906 verfügbaren Ausgaben recht frei; wir weisen nur bedeutendere Abweichungen von der Erstausgabe nach.

Gegen die deutsche Musik halte ich mancher lei Vorsicht für geboten. Gesetzt, daß man Bei Nietzsche 1886 (219): Einer. den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine große Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinn lichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnenverklärung, welche sich über ein selbst herrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurückverdirbt, ihm die Gesund heit mit zurückverdirbt.

Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben Bei Nietzsche 1886 (220) Glauben mit Hervorhebung. nach, muß falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem An blick des blauen, wollüstigen Meeres und der mittelländischen Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle deutsche Musik tut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnenuntergängen der Wüste Recht behält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter großen, schönen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht. – –

Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestände, daß sie von Gut und Böse

Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er vorher von einer vielleicht böseren Musik, so denkt er sich jetzt eine Musik, die von Gut und Böse nichts mehr ßsste; – doch war mir bei der Anführung, um den letzteren Sinn zu tun.

nichts mehr wüßte, nur daß vielleicht irgend ein Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von großer Ferne her die Farben einer unter gehenden, fast unverständlich gewordenen mora lischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre. –

Und Tolstojßsst einen landschaftlichen Eindruck zu Musik-Empfindung werden, wenn er in Luzern schreibt: Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte Farbe, ein einziger Ruhepunkt – überall Bewegung, Unregelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in Allem die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des Schönen. Wird diese Musik jemals erreicht? Nicht alle erreichen das Nirwana; aber Jener, der von Anfang an begabt, alles kennen lernt was man kennen soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll, verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum Nirwana

Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage Mr. Vincent d’ Indy .... laissant de côté les contingences et les petitesses de la vie pour regarder constamment vers un ideéal qu’on ne pourra jamais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.

(Kern, Geschichte des Buddhismus in <lb/>Indien).

Ist Nirwana das Reich Jenseits von Gut und Böse, so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte. Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt – oder das sich auftut, das Zeitlich - Gewesene einzulassen. Jenseits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst.

Ich glaube gelesen zu haben, daßss Liszt seine Dante- <lb break="no"/>Symphonie auf die beiden Sätze Inferno und Purgatorio be schränkte, weil unsere Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte.

– Vielleicht, daßss wir erst selbst die Erde verlassen müßssen, um sie zu finden. Doch nur dem Wanderer, welcher der irdischen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewußsst, öffnet sich das Gitter. –

November 1906.

Berliner Musikalien Druckerei G. m. b. H., Charlottenburg.