Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1916) Ferruccio Busoni Prepared by Christian Schaper In collaboration with (pre-coding pages 5–14) Maximilian Furthmüller Theresa Menard In collaboration with (pre-coding pages 15–20) Vanda Hehr In collaboration with (pre-coding pages 25–33) Michael Grötzsch Clemens Gubsch In collaboration with (pre-coding pages 34–41) Claudio Fuchs Jupp Wegner In collaboration with (pre-coding pages 42–48) David Mews Ullrich Scheideler Digitale Edition (Fassung 1916) Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin Berlin Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften Essays Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst Christian Schaper Ullrich Scheideler Ferruccio Busoni Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst Zweite, erweiterte Ausgabe Insel-Verlag zu Leipzig 1916 Buchblock mit 48 bedruckten Seiten. durchweg in Fraktur, nur fremdsprachige Anteile und Tonbuchstaben in Antiqua Breitkopf-Fraktur unbekannte dynamische Antiqua Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei. Weindel 2001

Erfassung von Briefen und Schriften von Ferruccio Busoni, ausgehend von Busonis Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz.

Worttrennungen an Zeilenumbrüchen im Original mit Doppelbindestrichen (⸗).

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Ferruccio Busoni Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst
Schiffsvignette des Insel-Verlags
Zweite, erweiterte Ausgabe Im Insel-Verlag zu Leipzig
[vacat]
Dem Musiker in Worten Rainer Maria Rilke Die Aufnahme des Entwurfs als Nr. 202 in die äußerst erfolgreiche 50-Pfennig-Reihe des Insel-Verlags geht auf die Vermittlung Rainer Maria Rilkes zurück, mit dessen Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke die Reihe die Insel-Bücherei 1912 begründet worden war. Vgl. den Brief des Verlegers Anton Kippenberg an Busoni vom 13. März 1914 (Mus.Nachl. F. Busoni B II, 2550). verehrungsvoll und freundschaftlich dargeboten
Was sucht Ihr? Sagt! Und was erwartet Ihr? Ich weiß es nicht; ich will das Unbekannte! Was mir bekannt, ist unbegrenzt. Ich will darüber noch. Mir fehlt das letzte Wort. Der mächtige Zauberer.
Ich fühlte … daß ich kein englisches und kein lateinisches Buch schreiben werde: und dies aus dem einen Grund … nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische, noch die englische, noch die italienische und spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verant worten werde. Hugo von Hofmannsthal, Ein Brief.

Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander gefügt, sind diese Aufzeichnungen in Wahrheit das Er gebnis von lange und langsam gereiften Überzeugungen.

In ihnen wird ein größtes Problem mit scheinbarer Un befangenheit aufgestellt, ohne daßss der Schlüssel zu seiner letzten Lösung gegeben werde, weil das Problem auf Men schenalter hinaus nicht – wenn überhaupt – lösbar ist.

Aber es begreift in sich eine unaufgezählte Reihe min derer Probleme, auf die ich das Nachdenken derjenigen lenke, die es betrifft. Denn recht lange schon hatte man in der Musik ernstlichem Suchen nicht sich hingegeben.

Wohl entsteht zu jeder Zeit Geniales und Bewunderungs wertes, und ich stellte mich stets in die erste Reihe, die vor überziehenden Fahnenträger freudig zu begrüßen; aber mir will es scheinen, daßss die mannigfachen Wege, die beschritten werden, zwar in schöne Weiten führen, aber nicht – nach oben.

Der Geist eines Kunstwerkes, das Maß der Empfindung, das Menschliche, das in ihm ist – sie bleiben durch wechselnde Zeiten unverändert an Wert; die Form, die diese drei auf nahm, die Mittel, die sie ausdrückten, und der Geschmack, den die Epoche ihres Entstehens über sie ausgoßss, sie sind vergänglich und rasch alternd.

Geist und Empfindung bewahren ihre Art, so im Kunst werk wie im Menschen; technische Errungenschaften, bereit willigst erkannt und bewundert, werden überholt, oder der Geschmack wendet sich von ihnen gesättigt ab. –

Die vergänglichen Eigenschaften machen das Moderne eines Werkes aus; die unveränderlichen bewahren es davor, altmodisch zu werden. Im Modernen wie im Alten gibt es Gutes und Schlechtes, Echtes und Unechtes. Absolut Modernes existiert nicht – nur früher oder später Entstandenes; länger blühend oder schneller welkend. Immer gab es Modernes, und immer Altes. –

Die Kunstformen sind um so dauernder, je näher sie sich an das Wesen der einzelnen Kunstgattung halten, je reiner sie sich in ihren natürlichen Mitteln und Zielen bewahren.

Die Plastik verzichtet auf den Ausdruck der menschlichen Pupille und auf die Farben; die Malerei degradiert, wenn sie die darstellende Fläche verläßsst und sich zur Theaterde koration oder zum Panoramabild kompliziert; –

die Architektur hat ihre Grundform, die von unten nach oben zu schreiten mußss, durch statische Notwendigkeit vor geschrieben; Fenster und Dach geben notgedrungen die mitt lere und abschließende Ausgestaltung; diese Bedingungen sind an ihr bleibend und unverletzbar; –

die Dichtung gebietet über den abstrakten Gedanken, den sie in Worte kleidet; sie reicht an die weitesten Grenzen und hat die größere Unabhängigkeit voraus:

aber alle Künste, Mittel und Formen erzielen beständig das eine, nämlich die Abbildung der Natur und die Wiedergabe der menschlichen Empfindungen.

Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden und beschreiben, wie ein Planet, regelmäßig ihren Kreis.

Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern. –

Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar gehen gelernt hat, aber noch geführt werden mußss. Es ist eine jungfräuliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten hat.

Sie ist sich selbst noch nicht bewußsst dessen, was sie kleidet, der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr schlummern: wWiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden.

Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klas sikern und geheiligten Traditionen! Tradition ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die – durch den Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker gegangen – schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten läßsst. Spricht doch bereits ein Cherubini, in seinem Lehrbuch des Kontrapunktes, von den Alten.

Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Ge setze vorgeschrieben – – – wir wenden die Gesetze der Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch nicht kennt!

So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind – es schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist frei.

Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig be griffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht erkennen noch anerkennen.

Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln es. Das schwebende Wesen mußss geziemend gehen, mußss, wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen; kaum, daßss es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre, der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken Sonnenstrahlen zu brechen.

Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Natur widerscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Un materialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Un körperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? –, und ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener In tensität, die vom Begriffe unabhängig ist.

Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschrei ben, mit der Beweglichkeit der Seele, mit der Lebendigkeit der aufeinanderfolgenden Momente; dort, wo der Maler oder der Bildhauer nur eine Seite oder einen Augenblick, eine Situation darstellen kann und der Dichter ein Tem perament und dessen Regungen mühsam durch angereihte Worte mitteilt.

Darum sind Darstellung und Beschreibung nicht das Wesen der Tonkunst; somit sprechen wir die Ablehnung der Programmmusik aus und gelangen zu der Frage nach den Zielen der Tonkunst.

Absolute Musik! Bereits im 18. Jahrhundert entstanden, war der Begriff absolute Musik Gegenstand musikästhetischer Diskurse des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Wesentlich geprägt wurde die Formulierung 1854 durch Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen, nach welcher diejenige Musik als absolut zu bezeichnen ist, die sich unabhängig von außermusikalischen Elementen konstituiert und lediglich aus ihrer kompositorischen Anlage heraus legitimiert. Darüber hinaus ist nach Hanslick nur Instrumentalmusik absolut – eine Definition, die für Busonis Verständnis von absoluter Musik nicht hinreicht (Freiheit von den Bedingungen der Materie). Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik. Absolute Musik ist ein Formenspiel ohne dichterisches Pro gramm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt, zu schweben und von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines Sonnenunterganges mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine vier eckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich ver hauchen wie die Himmelserscheinung selbst, und der Instinkt bestimmt den schaffenden Musiker, diejenigen Töne zu ver wenden, die in dem Innern des Menschen auf dieselbe Taste drücken und denselben Widerhall erwecken, wie die Vorgänge in der Natur.

Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas.

Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen, wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte viel mehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder die eingeteilte, und sie stammt daher, daßss einzelne Ton dichter ihren Geist und ihre Empfindung in eine solche Form gossen, weil es ihnen oder der Zeit am nächsten lag. Die Gesetzgeber haben Geist, Empfindung, die Individualität jener Tonsetzer und ihre Zeit mit der symmetrischen Musik identifiziert und schließlich – da sie weder den Geist, noch die Empfindung, noch die Zeit wiedergebären konnten – die Form als Symbol behalten und sie zum Schild, zur Glaubens lehre erhoben. Die Tondichter suchten und fanden diese Form als das geeignetste Mittel, ihre Gedanken mitzuteilen; sie entschwebten – und die Gesetzgeber entdecken und verwahren Euphorions auf der Erde zurückgebliebene Gewänder: Noch immer glücklich aufgefunden! Die Flamme freilich ist verschwunden, Doch ist mir um die Welt nicht leid. Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen, Zu stiften Gold= und Handwerksneid; Und kann ich die Talente nicht verleihen, Verborg ich wenigstens das Kleid. J. W. Goethe, Faust II; es spricht Mephistopheles in Gestalt des alten Weibes Phorkyas; Kontext dieser Stelle ist die Totenklage der Helena über ihren Sohn Euphorion.

Ists nicht eigentümlich, daßss man vom Komponisten in allem Originalität fordert und daßss man sie ihm in der Form verbietet? Was Wunder, daßss man ihn – wenn er wirklich originell wird – der Formlosigkeit anklagt. Mo zart! den Sucher und den Finder, den großen Menschen mit dem kindlichen Herzen, ihn staunen wir an, an ihm hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante, seinen Durchführungen und Kodas.

Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen Revolutionsmenschen, daßss er einen kleinen Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Auf gabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der Hammerklavier<pc>=</pc>Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer aAcht lassen zu dürfen und selbst unbewußsst frei aufzuatmen schienen. Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen Stellen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan=Kunst – man denke an die Überleitung zum letzten Satze der DdD= Moll=Sinfonie –, und Gleiches kann man von Brahms und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie be haupten.

Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten, wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.

Neben Beethoven ist Bach der Ur=Musik am ver wandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem (dem Architektonisch -Entgegenstehenden), von Eingebungen, die man Mensch und Natur überschreiben möchte;

Seine Passions=Rezitative haben das Menschlich=Redende, nicht Richtig=Deklamierte.

bei ihm gestaltet es sich am unbefangensten, weil er noch über seine Vorgänger hinwegschritt – (wenn er sie auch bewun derte und sogar benutzte) – und weil ihm die noch junge Errungenschaft der temperierten Stimmung vorläufig un endlich neue Möglichkeiten erstehen ließ.

Darum sind Bach und Beethoven

Als die charakteristischen Merkmale von Beethovens Persönlichkeit möchte ich nennen: den dichterischen Schwung, die starke menschliche Emp findung (aus welcher seine revolutionäre Gesinnung entspringt) und eine Vorverkündung des modernen Nervosismus. Diese Merkmale sind gewißss jenen eines Klassikers entgegengesetzt. Zudem ist Beethoven kein Meister im Sinne Mozarts oder des späteren Wagner, eben weil seine Kunst die Andeutung einer größeren, noch nicht vollkommen gewordenen, ist. (Man vergleiche den nächstfolgenden Absatz.)

als ein Anfang aufzufassen und nicht als unzuübertreffende Abgeschlossen heiten. Unübertrefflich werden wahrscheinlich ihr Geist und ihre Empfindung bleiben; und das bestätigt wiederum das zu Beginn dieser Zeilen Gesagte. Nämlich, daßss die Emp findung und der Geist durch den Wechsel der Zeiten an Wert nichts einbüßen, und daßss derjenige, der ihre höchsten Höhen ersteigt, jederzeit über die Menge ragen wird.

Was noch überstiegen werden soll, ist ihre Ausdrucks form und ihre Freiheit. Wagner, ein germanischer Riese, der im Orchesterklang den irdischen Horizont streifte, der die Ausdrucksform zwar steigerte, aber in ein System brachte (Musikdrama, Deklamation, Leitmotiv), ist durch die selbst geschaffenen Grenzen nicht weiter steigerungsfähig. Seine Kategorie beginnt und endet mit ihm selbst; vorerst, weil er sie zur höchsten Vollendung, zu einer Abrundung brachte; sodann, weil die selbstgestellte Aufgabe derart war, daßss sie von einem Menschen allein bewältigt werden konnte. Er gibt uns zugleich mit dem Problem auch die Lösung, wie ich einmal von Mozart sagte. Die Wege, die uns Beet hoven eröffnet, können nur von Generationen zurückgelegt werden. Sie mögen – wie alles im Weltsystem – nur einen Kreis bilden; dieser ist aber von solchen Dimensionen, daßss der Teil, den wir von ihm sehen, uns als gerade Linie erscheint. Wagners Kreis überblicken wir vollständig. – Ein Kreis im großen Kreise.

Der Name Wagner führt zur Programmmusik zurück. Sie ist als ein Gegensatz zur sogenannten absoluten Musik aufgestellt worden, und die Begriffe haben sich so ver härtet, daßss selbst die Verständigen sich an den einen oder den anderen Glauben halten, ohne eine dritte, außer und über den beiden liegende Möglichkeit anzunehmen. In Wirklichkeit ist die Programmmusik ebenso einseitig und begrenzt wie das als absolute Musik verkündete, von Hans lick verherrlichte Klang=Tapetenmuster Busoni verweist mit dieser (erst der Fassung von 1916 hinzugefügten) polemischen Formulierung auf Eduard Hanslicks musikästhetische Schrift Vom Musikalisch-Schönen. Hanslick postuliert darin eine sich ausschließlich in Musik äußernde und den Geist anregende Schönheit als oberstes kompositorisches Prinzip. Besonders die häufig als Formalismus missverstandene Formulierung Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik (1. Auflage, 1854) und die mit der zentralen Kategorie der Schönheit einhergehende stilistische Einschränkung mögen bei Busoni auf Unwillen gestoßen sein. Das Klang-Tapetenmuster ist als bissige Anspielung auf die bei Hanslick als Vorbild für musikalische Schönheit angeführte Form der Arabeske zu verstehen.. Anstatt architektoni scher und symmetrischer Formeln, anstatt der Tonika= und Dominantenverhältnisse hat sie das bindende dichterische, zu weilen gar philosophische Programm als wie eine Schiene sich angeschnürt.

Jedes Motiv – so will es mir scheinen – enthält wie ein Samen seinen Trieb in sich. Verschiedene Pflanzen samen treiben verschiedene Pflanzenarten, an Form, Blät tern, Blüten, Früchten, Wuchs und Farben voneinander abweichend. – – – Beethoven, dont les esquisses thématiques ou élémentaires sont innombrables, mais qui, sitôt les thèmes trouveés, semble par cela même en avoir établi tout le développement – Vincent d’Indy in <persName key="E0300015">César Franck</persName>.

Selbst eine und dieselbe Pflanzengattung wächst an Aus dehnung, Gestalt und Kraft, in jedem Exemplar selbständig geartet. So liegt in jedem Motiv schon seine vollgereifte Form vorbestimmt; jedes einzelne mußss sich anders entfalten, doch jedes folgt darin der Notwendigkeit der ewigen Har monie. Diese Form bleibt unzerstörbar, doch niemals sich gleich.

Das Klangmotiv des programmmusikalischen Werkes birgt die nämlichen Bedingungen in sich; es mußss aber – schon bei seiner nächsten Entwicklungsphase – sich nicht nach dem eigenen Gesetz, sondern nach dem des Program mes formen, vielmehr krümmen. Dergestalt, gleich in der ersten Bildung aus dem naturgesetzlichen Wege ge bracht, gelangt es schließlich zu einem ganz unerwarteten Gipfel, wohin nicht seine Organisation, sondern das Pro gramm, die Handlung, die philosophische Idee vorsätzlich es geführt.

Fürwahr, eine begrenzte, primitive Kunst! Gewißss gibt es nicht mißsszudeutende, tonmalende Ausdrücke – (sie haben die Veranlassung zu dem ganzen Prinzip gegeben) –, aber es sind wenige und kleine Mittel, die einen ganz geringen Teil der Tonkunst ausmachen. Das wahrnehmbarste von ihnen, die Erniedrigung des Klanges zu Schall, bei Nach ahmung von Naturgeräuschen: das Rollen des Don ners, das Rauschen der Bäume und die Tierlaute; und schon weniger wahrnehmbar, symbolisch, die dem Gesichts sinn entnommenen Nachbildungen, wie Blitzesleuchten, Sprungbewegungen, Vogelflug; nur durch Übertragung des reflektierenden Gehirns verständlich: das Trompeten signal als kriegerisches Symbol, die Schalmei als ländliches Schild, der Marschrhythmus in der Bedeutung des Schrei tens, der Choral als Träger der religiösen Empfindung. Zählen wir noch das Nationalcharakteristische – National instrumente, Nationalweisen – zum vorigen, so haben wir die Rüstkammer der Programmmusik erschöpfend be sichtigt. Bewegung und Ruhe, Moll und Dur, Hoch und Tief

Vergleiche später die Sätze über die Tiefe.

in ihrer herkömmlichen Bedeutung ergänzen das Inventar. Das sind gut verwendbare Nebenhilfsmittel in einem großen Rahmen, aber allein genommen ebenso wenig Musik, als Wachsfiguren Monumente zu nennen sind.

Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen Vorgangs auf Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbarn – gleichviel ob in der angrenzenden Stube oder im angrenzenden Weltteile – mit jener Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?

Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemüts zustände schwingen zu lassen: Angst (Leporello), Beklemmung, Erstarkung, Ermattung (Beethovens letzte Quartette), Ent schlußss (Wotan), Zögern, Niedergeschlagenheit, Ermunterung, Härte, Weichheit, Aufregung, Beruhigung, das Überraschende, das Erwartungsvolle, und mehr; ebenso den inneren Widerklang äußerer Ereignisse, der in jenen Gemütsstim mungen enthalten ist. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen selbst: nicht die Freude über eine beseitigte Gefahr, nicht die Gefahr oder die Art der Gefahr, welche die Angst hervorruft; wohl einen Leidenschaftszustand, aber wiederum nicht die psychische Gattung dieser Leidenschaft, ob Neid oder Eifersucht; ebenso vergeblich ist es, moralische Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit, in Töne umzusetzen oder gar abstrakte Begriffe, wie Wahrheit und Gerechtigkeit, durch sie aussprechen zu wollen. Könnte man denken, wie ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit, der seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das kommt daher, daßss „arm“ eine Form irdischer und gesellschaft licher Zustände ist, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist. Musik ist aber ein Teil des schwingenden Weltalls.

Der größte Teil neuerer Theatermusik leidet an dem Fehler, daßss sie die Vorgänge, die sich auf der Bühne ab spielen, wiederholen will, anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen während jener Vorgänge zu tragen. Wenn die Bühne die Illusion eines Gewitters vortäuscht, so ist dieses Ereignis durch das Auge erschöpfend wahrgenommen. Fast alle Komponisten bemühen sich jedoch, das Gewitter in Tönen zu beschreiben, welches nicht nur eine unnötige nudund schwächere Wiederholung, sondern auch eine Versäumnis ihrer Auf gabe ist. Die Person auf der Bühne wird entweder von dem Gewitter seelisch beeinflußsst, oder ihr Gemüt verweilt in folge von Gedanken, die es stärker in Anspruch nehmen, un beirrt. Das Gewitter ist sichtbar und hörbar ohne Hilfe der Musik; was aber in der Seele des Menschen währenddessen vorgeht, das Unsichtbare und Unhörbare, das soll die Musik verständlich machen.

Wiederum gibt es „sichtbare“ Seelenzustände auf der Bühne, um die sich die Musik nicht zu kümmern braucht. Nehmen wir die theatralische Situation,

Aus Offenbachs Les contes d’Hoffmann.

daßss eine lustige nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, er bitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die Mu sik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen: wWas die beiden vVorderen treiben und dabei empfinden, ist ohne jede weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran beteiligen, das tragische Schweigen nicht brechen.

Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten Oper, welche die durch eine dramatisch=bewegte Szene ge wonnene Stimmung in einem geschlossenen Stücke zusammen faßsste und ausklingen ließ (Arie). – Wort und Gesten vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz wieder ein. Das ist weniger äußerlich, als man es jetzt glauben machen will. Wieder war es aber die versteifte Form der „Arie“ selbst, die zu der Unwahrheit des Aus drucks und zum Verfall führte.

Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine Konvention bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige Wirkung: aAus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen, wird eine Handlung, in welcher die Personen singend agieren, von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahr scheinliche gestellt sein müssen, auf daßss eine Unmöglichkeit die andere stütze und so beide möglich und annehmbar werden.

Schon deshalb, und weil er von vornherein dieses wichtigste Prinzip ignoriert, sehe ich den sogenannten italienischen Veris mus für die musikalische Bühne als unhaltbar an.

Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig, über diese andere Klarheit zu gewinnen: „An welchen Mo menten ist die Musik auf der Bühne unerläßsslich?“ Die präzise Antwort gibt diese Auskunft: „Bei Tänzen, bei Märschen, bei Liedern und – beim Eintreten des Über natürlichen in die Handlung.“

Es ergibt sich demnach eine kommende Möglichkeit in der Idee des übernatürlichen Stoffes. Und noch eine: in der des absoluten „Spieles“, des unterhaltenden Verkleidungs treibens, der Bühne als offenkundige und angesagte Ver stellung, in der Idee des Scherzes und der Unwirklichkeit als Gegensätze zum Ernste und zur Wahrhaftigkeit des Lebens. Dann ist es am rechten Platze, daßss die Personen singend ihre Liebe beteuern und ihren Haßss ausladen, und daßss sie melodisch im Duell fallen, daßss sie bei pathetischen Explo sionen auf hohen Tönen Fermaten aushalten; es ist dann am rechten Platze, daßss sie sich absichtlich anders gebärden als im Leben, anstatt daßss sie (wie in unseren Theatern und in der Oper zumal) unabsichtlich alles verkehrt machen.

Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder des Unnatür lichen, als der allein ihr natürlich zufallenden Region der Erscheinungen und der Empfindungen, sich bemächtigen und dergestalt eine Scheinwelt schaffen, die das Leben entweder in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert; die bewußsst das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste Oper, der Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Masken spiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf daßss der Zuschauer der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und nicht sich ihr hingebe wie einem Erlebnis.

So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf – soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen Augenblicke einbüßen –, so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische Genußss zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Dar steller „spiele“ – er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe un gläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen und Feinschmecken.

Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis, fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.

Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daßss die meisten von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl des halb fordern, weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht ver langt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, un kompromittierend, und vor allem: unanstrengend. Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daßss, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an dem selben vom Empfänger selbst verrichtet werden mußss.

Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem ursprünglichen „schwebenden“ Zustand zu verhelfen.

Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vor tragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen. –

Die Gesetzgeber aber verlangen, daßss der Vortragende die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wieder gabe für um so vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen hält.

Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen einbüßt

Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflußsst, die Phan tasie fesselt, wie aus ihr die „Form“ sich bildete und aus der Form der „Konventionalismus“ des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A. Hoffmann, der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt.

Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten – so würde man folgern – in der an sich traumhaften und transzendentalen Kunst der Töne erst recht die geeignete Sprache und Wirkung finden müssen. Die Schleier der Mystik, das innere Klingen der Natur, die Schauer des Übernatürlichen, die dämmerigen Unbestimmtheiten der schlaf= wachenden Bilder – alles, was er mit dem präzisen Wort schon so eindrucksvoll schilderte, das hätte er – man sollte denken – durch die Musik erst völlig lebendig erstehen lassen. Man vergleiche dagegen Hoffmanns bestes musikalisches Werk mit der schwächsten seiner literari schen Produktionen, und man wird mit Trauer wahrnehmen, wie ein über nommenes System von Taktarten, Perioden und Tonarten – zu dem noch der landläufige Opernstil der Zeit das Seinige tut – aus dem Dichter einen Philister machen konnte. Wie aber ein anderes Ideal der Musik ihm vorschwebte, entnehmen wir aus vielen und oft ausge zeichneten Bemerkungen des Schriftstellers selbst. Von ihnen schließt die folgende der Denkungsart dieses Büchleins am engsten sich an:

Nun! immer weiter fort und fort treibt der waltende Weltgeist; nie kehren die verschwundenen Gestalten, so wie sie sich in der Lust des Lebens bewegten, wieder: aber ewig, unvergänglich ist das Wahrhaftige, und eine wunderbare Geistergemeinschaft schmiegt ihr geheimnisvolles Band um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Noch leben geistig die alten hohen Meister; nicht verklungen sind ihre Gesänge: nur nicht vernommen wurden sie im brausenden, tosenden Geräusch des ausge lassenen wilden Treibens, das über uns einbrach. Mag die Zeit der Erfüllung unseres Hoffens nicht mehr fern sein, mag ein frommes Leben in Friede und Freudigkeit beginnen und die Musik frei und kräftig ihre Seraphschwingen regen, um aufs neue den Flug zu dem Jenseits zu beginnen, das ihre Heimat ist und von welchem Trost und Heil in die unruhevolle Brust des Menschen hinabstrahlt. (E. T. A. Hoffmann, „Die Serapionsbrüder“.)

, das soll der Vortragende durch seine eigene wiederherstellen.

Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste, sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus den alten Zeichen abgeleitet, – sie bedeuten nun die Tonkunst selbst.

Läge es nun in der Macht der Gesetzgeber, so müßsste ein und dasselbe Tonstück stets in ein und demselben Zeitmaß erklingen, sooft, von wem und unter welchen Bedingungen es auch gespielt würde.

Es ist aber nicht möglich, die schwebende expansive Natur des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegen teil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte. – Große Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück – wie sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten – und immer nach den gegebenen Verhältnissen jener „ewigen Harmonie“.

Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht, behält der Gesetzgeber recht.

Notation (Skription) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein recht mißssverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit Transkrip tionen erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßssten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Original gestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form= und Klang mittel, für welche der Komponist sich entscheiden mußss, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.

Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit noch unbestimmten Neigungen geboren, entschließt er sich oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschlußss getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Ein fall oder vom Menschen manches Originale, das unver wüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augen blick des Entschlusses an zum Typus einer Klasse herab gedrückt. Der Einfall wird zu einer Sonate oder zu einem Konzert, der Mensch zum Soldaten oder zum Priester. Das ist ein Arrangement des Originals. Von dieser ersten zu einer zweiten Transkription ist der Schritt verhältnismäßig kurz und unwichtig. Doch wird im aAllgemeinen nur von der zweiten Aufhebens gemacht. Dabei übersieht man, daßss eine Transkription die Originalfassung nicht zerstört, also ein Verlust dieser durch jene nicht entsteht. –

Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, und auch dieser kann – er mag noch so frei sich gebärden – niemals das Original aus der Welt schaffen.

– Denn das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem Ertönen und nachdem es vorübergeklungen, ganz und un versehrt da. Es ist zugleich in und außer der Zeit, und sein Wesen ist es, das uns eine greifbare Vorstellung des sonst ungreifbaren Begriffes von der Idealität der Zeit geben kann.

Im üÜbrigen muten die meisten Klavierkompositionen Beethovens wie Transkriptionen vom Orchester an, die meisten Schumannschen Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier – und sinds in gewisser Weise auch.

Merkwürdigerweise steht bei den Buchstabentreuen die Variationenform in großem Ansehen. Das ist seltsam, weil die Variationenform – wenn sie über ein fremdes Thema aufgebaut wird – eine ganze Reihe von Bearbeitungen gibt, und zwar um so respektloser, je geistreicherer Art sie sind.

So gilt die Bearbeitung nicht, weil sie an dem Original ändert; und es gilt die Veränderung, obwohl sie das Original bearbeitet.

Eine Einleitung des Verfassers zu einem Berliner Konzerte vom November 1910 Drittes Nikisch-Konzert, 7. November 1910; Busoni spielte Beethovens Fünftes Klavierkonzert und Liszts Rhapsodie espagnole; siehe Programm-Buch, S. 23–28, Busoni-Nachlass E 1910, 7. enthielt u. a. die folgenden Sätze: Um das Wesen der Bearbeitung mit einem entscheidenden Schlage in der Schätzung des Lesers zu künstlerischer Würde zu erhöhen, bedarf es nur der Nennung Johann Sebastian Bachs. Er war einer der fruchtbarsten Bearbeiter eigener und fremder Stücke, namentlich als Organist. Von ihm lernte ich die Wahrheit erkennen, daß eine gute, große, eine uni verselle Musik dieselbe Musik bleibt, durch welche Mittel sie auch ertönen mag. Aber auch die andere Wahrheit: daß verschiedene Mittel eine verschiedene – ihnen eigene – Sprache haben, in der sie den nämlichen Gehalt in immer neuer Deutung verkünden.Es kann der Mensch nicht schaffen, nur verarbeiten, was er auf seiner Erde vorfindet. Man bedenke überdies, daßss jede Vorstellung einer Oper auf dem Theater, durch Absicht teils und teils durch die Zufälle, die so zahlreiche mit wirkende Elemente hineintragen, zu einer Bearbeitung wird und werden mußss. Noch nie erlebte ich von der Bühne aus einen Mozartschen Don <lb/>Giovanni, der dem anderen geglichen hätte. Der Regisseur scheint hier – wie auch bei der Zauberflöte – seinen Ehrgeiz darin zu finden, die Szenen (und innerhalb der Szenen die Vorgänge) immer wieder zu variieren und umzustellen. Auch hörte ich (leider) niemals, daßss die Kritik gegen die Übersetzung des Don Giovanni ins Deutsche sich gewehrt hätte; wenngleich eine Übersetzung überhaupt (bei diesem Meisterwerk des Zusammengusses von Text und Musik nun besonders) als eine der bedenklichsten Bearbeitungen sich herausstellt.

Musikalisch ist ein Begriff, der den Deutschen ange hört, und die Anwendung des Wortes selbst findet sich in dieser Sinnübertragung in keiner anderen Sprache. Es ist ein Begriff, der den Deutschen angehört und nicht der allgemeinen Kultur, und seine Bezeichnung ist falsch und unübersetzbar. Musikalisch ist von Musik hergeleitet, wie poetisch von Poesie und physikalisch von Physik. Wenn ich sage: Schubert war einer der musikalischsten Menschen, so ist das dasselbe, als ob ich sagte: Helmholtz war einer der physikalischsten. Musikalisch ist: was in Rhythmen und Intervallen tönt. Ein Schrank kann musikalisch sein, wenn er ein Spielwerk enthält.

Die einzige Art Menschen, die man musikalisch nennen sollte, wären die Sänger, weil sie selbst erklingen können. In derselben Weise könnte ein Clown, der durch einen Trick Töne von sich gibt, sobald man ihn berührt, ein nachgemachter musikalischer Mensch heißen.

Im vergleichenden Sinne kann musikalisch allenfalls noch wohllautend be deuten.

Meine Verse sind zu musikalisch, als daßss sie noch in Musik gesetzt werden könnten, sagte mir einmal ein be kannter Dichter. Spirits moving musically To a lutes well-tuned law (Geister schwebten musikalisch zu der Laute wohlgestimmtem Satz) schreibt E. A. Poe; endlich spricht man ganz richtig von einem musikalischen Lachen, weil es wie Musik klingt.

In der angewandten und fast ausschließlich gebrauchten deutschen Bedeutung ist ein musikalischer Mensch ein solcher, der dadurch Sinn für Musik bekundet, dass er das Tech nische dieser Kunst wohl unterscheidet und empfindet. Unter Technischem verstehe ich hier wieder den Rhythmus, die Harmonie, die Intonation, die Stimmführung und die Thematik. Je mehr Feinheiten er darin zu hören oder wiederzugeben versteht, für um so musikalischer wird er ge halten.

Bei dem großen Gewicht, das man auf diese Bestand teile der Tonkunst legt, ist selbstverständlich das Musikali sche von höchster Bedeutung geworden. – Demnach müßsste ein Künstler, der technisch vollkommen spielt, für den meist musikalischen Spieler gelten; weil man aber mit Technik nur die mechanische Beherrschung des Instrumentes meint, so hat man technisch und musikalisch zu Gegensätzen ge macht.

Man ist so weit gegangen, ein Musikstück selbst als musi kalisch zu bezeichnen

Diese Kompositionen sind aber so musikalisch, sagte mir einmal ein Geiger von einem vierhändigen Werkchen, das ich zu unbedeutend fand.

, oder gar von einem großen Kom ponisten wie Berlioz zu behaupten, er wäre es nicht in ge nügendem Maße. Unmusikalisch ist der stärkste Tadel; er kennzeichnet den damit Betroffenen und macht ihn zum Geächteten.

In einem Lande wie Italien, wo der Sinn für musika lische Freuden allgemein ist, wird diese Unterscheidung über flüssig, und das Wort dafür ist in der Sprache nicht vor handen. In Frankreich, wo die Empfindung für Musik nicht im Volke lebt, gibt es Musiker und Nichtmusiker. Von den übrigen einige aiment beaucoup la musique, oder ils ne l’aiment pas. Nur in Deutschland macht man eine Ehrensache daraus, musikalisch zu sein, das heißt, nicht nur Liebe zur Musik zu empfinden, sondern hauptsächlich sie in ihren technischen Ausdrucksmitteln zu verstehen und deren Gesetze einzuhalten.

Tausend Hände halten das schwebende Kind und bewa chen wohlmeinend seine Schritte, daßss es nicht auffliege und so vor einem ernstlichen Fall bewahrt bleibe. Aber es ist noch so jung und ist ewig, die Zeit seiner Freiheit wird kommen. Wenn es aufhören wird, musikalisch zu sein.

Gefühl ist eine moralische Ehrensache – wie die Ehrlich keit es ist —, eine Eigenschaft, die niemand sich absprechen ßsst – die im Leben gilt wie in der Kunst. Aber wenn im Leben Gefühllosigkeit zugunsten einer brillanteren Cha raktereigenschaft – wie beispielsweise Tapferkeit, Unbestech lichkeit – noch verziehen wird, in der Kunst ist sie als oberste moralische Qualität gestellt.

Gefühl (in der Tonkunst) fordert aber zwei Gefährten: Geschmack und Stil. Nun trifft man im Leben ebenso selten auf Geschmack wie auf tiefes und wahres Gefühl, und was den Stil anbelangt, so ist er künstlerisches Gebiet. Was übrigbleibt, ist eine Vorstellung von Gefühl, das mit Rühr seligkeit und Geschwollenheit bezeichnet werden mußss. Und vor allem verlangt man seine deutliche Sichtbarkeit! Es mußss unterstrichen werden, auf daßss jeder merke, sehe und höre. Es wird vor den Augen des Publikums in starker Vergrößerung auf die Leinwand projektiert, so daßss es auf dringlich und verschwommen vor den Augen tanzt; es wird ausgeschrien, daßss es denen, die der Kunst fernstehen, in die Ohren dringe; übergoldet, auf daßss es den Unbemittelten Staunen entreiße.

Denn auch im Leben übt man mehr die Äußerungen des Gefühls, in Mienen und Worten; seltener und echter ist jenes Gefühl, welches handelt, ohne zu reden, und am wert vollsten ein Gefühl, das sich verbirgt.

Unter Gefühl versteht man gemeinhin: Zartheit, Schmerz lichkeit und Überschwenglichkeit des Ausdrucks.

Was schließt nicht noch alles in sich die Wunderblume der Empfindung! Zurückhaltung und Schonung, Aufopfe rung, Stärke, Tätigkeit, Geduld, Großmut, Freudigkeit und jene allwaltende Intelligenz, von welcher das Gefühl recht eigentlich stammt.

Nicht anders in der Kunst, die das Leben widerspiegelt, noch ausgesprochener in der Musik, welche die Empfindungen des Lebens wiederholt: wozu jedoch – wie ich betone – der Geschmack hinzutreten mußss und der Stil; der Stil, der Kunst vom Leben unterscheidet.

Worum der Laie, der mediokere Künstler sich mühen, ist nur das Gefühl im kKleinen, im Detail, auf kurze Strecken.

Gefühl im gGroßen verwechseln Laie, Halbkünstler, Pu blikum (und leider auch die Kritik!) mit Mangel an Emp findung, weil sie alle nicht vermögen, größere Strecken als Teile eines noch größeren Ganzen zu hören. Also ist Gefühl auch Ökonomie.

Demnach unterscheide ich: Gefühl als Geschmack – als Stil – als Ökonomie. Jedes ein Ganzes und jedes ein Drittel des Ganzen. In ihnen und über ihnen waltet eine subjektive Dreieinigkeit: das Temperament, die Intelligenz und der Instinkt des Gleichgewichtes.

Diese sechs führen einen Reigen von so subtiler Anord nung der Paarung und der Verschlingung, des Tragens und des Getragenwerdens, des Vortretens und Nieder bückens, des Bewegens und Stillstehens, wie kein kunst vollerer erdenkbar ist.

Ist der Akkord der beiden Dreiklänge rein gestimmt, dann darf, soll zum Gefühl sich gesellen die Phantasie: Auf jene sechs gestützt, wird sie nicht ausarten, und aus dem Vereine aller Elemente ersteht die Persönlichkeit. Diese empfängt wie eine Linse die Lichteindrücke, wirft sie auf ihre Weise als Negativ zurück, und dem Hörer erscheint das richtige Bild.

Insoweit der Geschmack an dem Gefühle teilhat, ändert dieses – wie alles – mit den Zeiten seine Ausdrucksformen. Das heißt: eine oder die andere Seite des Gefühls wird zu der einen oder der anderen Zeit bevorzugt, einseitig ge pflegt, besonders herausgekehrt.

So war mit und nach Wagner eine schwelgerische Sinn lichkeit an die Reihe gekommen: die Form der Steigerung im Affekt haben die Komponisten noch heute nicht über wunden. Jedem ruhigen Beginnen folgte ein rasches Auf wärtstreiben. Der darin unersättliche, aber nicht unerschöpf liche Wagner verfiel notgedrungen auf den Ausweg, nach einem erreichten Höhepunkte wieder leise anzusetzen, um sofort von neuem anzuwachsen.

Die neueren Franzosen zeigen eine Umkehr: iIhr Gefühl ist eine reflexive Keuschheit, vielleicht mehr noch eine zurück gehaltene Sinnlichkeit: dDen bergigen aufsteigenden Pfaden Wagners sind monotone Ebenen von dämmernder Gleich mäßigkeit gefolgt.

So bildet sich im Gefühl der Stil, wenn der Geschmack es leitet.

Die Apostel der Neunten Symphonie ersannen in der Musik den Begriff der Tiefe. Er steht noch in vollem Werte, zumal im germanischen Land. – Es gibt eine Tiefe des Gefühls und eine Tiefe des Gedankens: – dDie letztere ist literarisch und kann keine Anwendung auf Klänge haben.

Die Tiefe des Gefühls ist hingegen seelisch und der Natur der Musik durchaus zugehörig.

Die Apostel der Neunten Symphonie haben von der Tiefe in der Musik eine besondere und nicht ganz festum rissene Schätzung.

Die Tiefe wird zur Breite, und man trachtet, sie durch Schwere zu erreichen: sSie zeigt sich sodann – durch Ge dankenassoziationen – in der Bevorzugung der tiefen Re gister und (wie ich beobachten konnte) auch in einem Hinein deuten eines zweiten, verborgenen Sinnes, meist eines lite rarischen.

Wenn auch nicht die einzigen Merkmale, so sind doch diese die bedeutsameren.

Unter Tiefe des Gefühls dürfte jedoch jeder Freund der Philosophie das Erschöpfende im Gefühle betrachten: das volle Aufgehen in einer Stimmung.

Wer mitten in einer echten, großen karnevalischen Si tuation griesgrämig oder auch nur indifferent herumschleicht, wer nicht von der gewaltigen Selbstsatire des Masken= und Fratzentums, der Macht der Unbändigkeit über die Ge setze, dem freigelassenen Rachegefühl des Witzes mitgerissen und mitergriffen wird, der zeigt sich unfähig, sein Gefühl in die Tiefe zu senken.

Hier bestätigt sich wieder, daßss die Tiefe des Gefühls in dem vollständigen Erfassen einer jeden – selbst der leichtfertigsten – Stimmung ihre Wurzeln hat, – im Wiedergeben ihre Blüten treibt: wohingegen die gang bare Vorstellung vom tiefen Gefühle nur eine Seite des Gefühls im Menschen herausgreift und diese speziali siert.

In dem sogenannten Champagnerlied aus Don Gio <lb break="no"/>vanni liegt mehr Tiefe als in manchem Trauermarsche oder Notturno: Tiefe des Gefühls äußert sich auch darin, daßss man es nicht in Nebensächlichem und Unbedeutendem vergeude.

Der Schaffende soll kein überliefertes Gesetz auf Treu und Glauben hinnehmen und sein eigenes Schaffen jenem gegenüber von vornherein als Ausnahme betrachten. Er ßsste für seinen eigenen Fall ein entsprechendes eigenes Gesetz suchen, formen und es nach der ersten vollkommenen Anwendung wieder zerstören, um nicht selbst bei einem näch sten Werke in Wiederholungen zu verfallen.

Die Aufgabe des Schaffenden besteht darin, Gesetze auf zustellen, und nicht, Gesetzen zu folgen. Wer gegebenen Ge setzen folgt, hört auf, ein Schaffender zu sein.

Der einem nachgeht, überholt ihn nicht, soll Michelangelo ge sagt haben. Und über die nützliche Anwendung der Kopien äußert sich noch viel drastischer ein italienischer Spruch.

Die Schaffenskraft ist um so erkennbarer, je unabhängiger sie von Überlieferungen sich zu machen vermag. Aber die Absichtlichkeit im Umgehen der Gesetze kann nicht Schaffens kraft vortäuschen, noch weniger erzeugen.

Der echte Schaffende erstrebt im Grunde nur die Voll endung. Und indem er diese mit seiner Individualität in Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz.

Routine wird sehr geschätzt und oft verlangt; im Musik amte wird sie beansprucht. Daßss Routine in der Musik überhaupt existieren und daßss sie überdies zu einer vom Mu siker geforderten Bedingung gemacht werden kann, beweist aber wiederum die engen Grenzen unserer Tonkunst. Rou tine bedeutet: Erlangung und Anwendung weniger Erfah rungen und Kunstgriffe auf alle vorkommenden Fälle. Demnach mußss es eine erstaunliche Anzahl verwandter Fälle geben. Nun erträume ich mir gern eine Art Kunstaus übung, bei welcher jeder Fall ein neuer, eine Ausnahme wäre! Wie stünde das Heer der Praktiker hilf= und taten los davor: es müßEs müsste schließlich den Rückzug antreten und verschwinden. Die Routine wandelt den Tempel der Kunst um in eine Fabrik. Sie zerstört das Schaffen. Denn Schaffen heißt: aus Nnichts erzeugen. Die Routine aber gedeiht im Nachbilden. Sie ist die Poesie, die sich komman dieren läßsst. Weil sie der Allgemeinheit entspricht, herrscht sie. Im Theater, im Orchester, im Virtuosen, im Unterricht. Man möchte rufen: mMeidet die Routine, beginnt jedesmal, als ob ihr nie begonnen hättet, wisset nichts, sondern denkt und fühlet!

Denn seht, die Millionen Weisen, die einst ertönen werden, sie sind seit Anfang vorhanden, bereit, schweben im Äther, und mit ihnen andere Millionen, die niemals gehört werden. Ihr braucht nur zu greifen, und ihr haltet eine Blüte, einen Hauch des Meeresatems, einen Sonnenstrahl in der Hand; meidet die Routine, denn sie greift nur nach dem, das eure Stube erfüllt, und immer wieder nach dem nämlichen: sSo bequem werdet ihr, daßss ihr euch kaum mehr vom Lehn stuhl erhebt und nur mehr nach dem Allernächsten greift. Und Millionen Weisen sind seit Anfang vorhanden und warten darauf, sich zu offenbaren!

Das ist mein Unglück, daßss ich keine Routine habe, schreibt einmal Wagner an Liszt, als es mit der Komposition des Tristan nicht vorwärts wollte. Der von Busoni frei zitierte Brief Richard Wagners an Franz Liszt datiert vom 8. Mai 1859; in der Busoni vermutlich vorliegenden Ausgabe Wagner–Liszt 1900 (II:248 f.) lautet die betreffende Passage im Kontext: Da heißt’s denn nun: Mach’ den Tristan fertig, dann wollen wir sehen! – Das ist recht schön. Wie aber, wenn ich den Tristan nun nicht fertig machte, weil ich ihn nicht fertig machen könnte? Mir ist, als sollte ich nun vor dem – Ziele (?) – endlich verschmachtend zusammenbrechen. Wenigstens sehe ich mir täglich mit recht gutem Willen mein Buch an, aber der Kopf bleibt wüst, das Herz leer, und ich starre hinaus in die Nebel- und Regenwolken, die undurchdringlich seit meinem Hiersein mir selbst die Aussicht, durch erfrischende Excursionen mein trübes Blut etwas aufzurütteln, unerfüllt lassen. Da heißt’s denn – nun, arbeite nur, dann wird’s schon wieder gehen! Vortrefflich; ich armer Teufel habe aber so ganz und gar keine Routine, und wenn’s nicht von selbst geht, kann ich eben nichts machen. Recht lieblich das! Und dazu nun so gar keine Chance, mir auf einem andren Wege zu helfen. Alles verrannt und versperrt! Nur die Arbeit soll mir helfen: aber, was hilft mir dazu, daß ich eben arbeiten kann? – Offenbar habe ich zuwenig von dem, was Du zuviel hast!

Damit täuschte sich Wagner und maskierte sich vor an deren. Er hatte zu viel Routine, und seine Kompositions maschinerie blieb stecken, sobald der Knoten in ihr entstand, der nur mit Inspiration zu lösen war. Zwar löste Wagner ihn schließlich, wenn es ihm gelang, die Routine beiseite zu lassen; hätte er aber wirklich keine besessen, so hätte er es ohne Bitterkeit behauptet.

Immerhin drückt sich in dem Wagnerschen Briefsatz die richtige künstlerische Verachtung für die Routine aus, in sofern als er diese ihn niedrig dünkende Eigenschaft sich selbst abspricht und vorbeugt, daßss andere sie ihm zuerkennen. Er lobt sich selbst damit und gebärdet sich ironisch=verzweifelt. Er ist tatsächlich unglücklich, daßss die Komposition stockt, tröstet sich aber reichlich mit dem Bewußsstsein, daßss sein Genie über der billigen Handhabung der Routine steht; zugleich kehrt er den Bescheidenen hervor, indem er schmerzlich ein gesteht, eine allgemein geschätzte und dem Handwerk zuge hörige Könnerschaft nicht sich angeeignet zu haben.

Der Satz ist ein Meisterstück der instinktiven Schlauheit des Erhaltungstriebes – beweist uns aber (und das ist unser Ziel) die Geringheit der Routine im Schaffen.

So eng geworden ist unser Tonkreis, so stereotyp seine Ausdrucksform, daßss es zurzeit nicht ein bekanntes Motiv gibt, auf das nicht ein anderes bekanntes Motiv paßsste, so daßss es zu gleicher Zeit mit dem ersten gespielt werden könnte. Um nicht mich hier in Spielereien zu verlieren

Eine solche Spielerei unternahm ich einmal mit einem Freunde, um scherzeshalber festzustellen, wie viele von den verbreiteten Musikstücken nach dem Schema des zweiten Themas im Adagio der Neunten Sym <lb break="no"/>phonie gebildet waren. In wenigen Augenblicken hatten wir an fünf zehn Analogien der verschiedensten Gattung beisammen, darunter welche niederster Kunst. Und Beethoven selbst. Ist das Thema des Finales der fünften ein anderes als jenes, womit die zweite ihr Allegro ansagt? Und als das Hauptmotiv des dritten Klavierkonzerts, diesmal in Moll? –

, enthalte ich mich jedes Beispiels.

Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: daßss die Entfaltung der Tonkunst an unseren Musikinstrumenten scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Stu dium der Partituren. Wenn Schaffen, wie ich es de finierte, ein Formen aus dem Nichts bedeuten soll (und es kann nichts anderes bedeuten); – wenn Musik – (dieses habe ich jedenfalls ausgesprochen) – zur Originalität, nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll (ein Zurück, das das eigentliche Vorwärts sein mußss); – wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauch tes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll; – diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zu nächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festge kettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollen den mitfesseln.

Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigen tümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stoßen, die eben nicht anders sich gebärden können, als es in ihrer Beschränkung liegt;

Und das ist das Siegreiche in Beethoven, daßss er von allen mo dernen Tondichtern am wenigsten den Forderungen der Instrumente nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, daßss Wagner einen Po saunensatz geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige Wohnung nahm.

dazu gesellt sich die Manieriertheit der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumen tes; der vibrierende Überschwang des Violoncells, der zögernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette; der art, daßss in einem neuen und selbständigeren Werke notge drungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammen formt und daßss der unabhängigste Komponist in all dieses Unabänderliche hinein= und hinabgezogen wird.

Vielleicht, daßss noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen ausgebeutet wurden – die polyphone Har monik dürfte noch manches Klangphänomen erzeugen können –, aber die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer Bahn, deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist. Wo hin wenden wir dann unseren Blick, nach welcher Richtung führt der nächste Schritt?

Ich meine, zum abstrakten Klange, zur hindernislosen Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit. Dahin müssen alle Bemühungen zielen, daßss ein neuer Anfang jungfräulich erstehe.

Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative, die verantwortlich=große Aufgabe haben, von allem Gelern ten, Gehörten und Scheinbar=Musikalischen sich zu befreien; um, nach der vollendeten Räumung, eine inbrünstig=asze tische Gesammeltheit in sich zu beschwören, die ihn befähigt, den inneren Klang zu erlauschen und zur weiteren Stufe zu gelangen, diesen auch den Menschen mitzuteilen. Diesen Giotto eines musikalischen Rinascimento wird die Weihe der legendarischen Persönlichkeit krönen. Der ersten Offen barung wird sodann eine Epoche religiöser Musikgeschäftig keit folgen, daran kein Zunftwesen einen Teil haben kann, in sofern als die Berufenen und Eingeweihten unverkennbar, und nur diese die Vollbringenden sein werden. An diesem Zeitpunkt leuchtet die vollste Blüte, vielleicht die erste in der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die Dekadenz beginnt und die reinen Begriffe sich verwirren und wie der Orden entweiht wird …

Es ist das Schicksal der Späteren, und wir – heute – sind ihnen ähnlich, wie die Kindheit dem Greisenalter.

Was in unserer heutigen Tonkunst ihrem Urwesen am nächsten rückt, sind die Pause und die Fermate. Große Vortragskünstler, Improvisatoren, wissen auch dieses Aus druckswerkzeug im höheren und ausgiebigeren Maße zu verwerten. Die spannende Stille zwischen zwei Sätzen, in dieser Umgebung selbst Musik, läßsst weiter ahnen, als der bestimmtere, aber deshalb weniger dehnbare Laut vermag.

Zeichen sind es auch, und nichts anderes, was wir heute unser Tonsystem nennen. Ein ingeniöser Behelf, etwas von jener ewigen Harmonie festzuhalten; eine kümmerliche Taschenausgabe jenes enzyklopädischen Werkes; künstliches Licht anstatt Sonne. – Habt ihr bemerkt, wie die Menschen über die glänzende Beleuchtung eines Saales den Mund aufsperren? Sie tun es niemals über den millionenmal stärkeren Mittagssonnenschein. –

Und auch hier sind die Zeichen bedeutsamer geworden als das, was sie bedeuten sollen und nur andeuten können.

Wie wichtig ist doch die Terz, die Quinte und die Oktave. Wie streng unterscheiden wir Konsonanzen und Dissonanzen – da, wo es überhaupt Dissonanzen nicht geben kann!

Wir haben die Oktave in zwölf gleich voneinander ent fernte Stufen abgeteilt, weil wir uns irgendwie behelfen mußssten, und haben unsere Instrumente so eingerichtet, daßss wir niemals darüber oder darunter oder dazwischen gelangen können. Namentlich die Tasteninstrumente haben unser Ohr gründlich eingeschult, so daßss wir nicht mehr fähig sind, anderes zu hören – als nur im Sinne der Unreinheit. Und die Natur schuf eine unendliche Abstufung – unendlich! wWer weiß es heute noch? Die gleichschwebende zwölfstufige Temperatur, welche bereits seit ca. 1500 theoretisch erörtert, aber erst kurz vor 1700 prinzipiell auf gestellt wurde (durch Andreas Werkmeister), teilt die Oktave in zwölf gleiche Teile (Halbtöne, daher Zwölfhalbtonsystem) und gewinnt da mit Mittelwerte, welche kein Intervall wirklich rein, aber alle leidlich brauchbar intonieren. (Riemann, Musiklexikon) Sub voce Temperatur; Busoni zitiert die 5. Auflage (1900), S. 1124.

So haben wir durch Andreas Werkmeister, diesemn Werkmeister in der Kunst, das Zwölfhalbtonsystem mit lauter unreinen, aber leidlich brauchbaren Intervallen gewonnen. Was ist aber rein und was un rein? Unser Ohr hört ein verstimmtes Klavier, bei welchem vielleicht reine und brauchbare Intervalle entstanden sind, als unrein an. Das diplomatische Zwölfersystem ist ein notgedrungener Behelf, und doch wachen wir über die Wahrung seiner Unvollkommenheiten. –

Und innerhalb dieser zwölfteiligen Oktave haben wir noch eine Folge bestimmter Abstände abgesteckt, sieben an der Zahl, und darauf unsere ganze Tonkunst gestellt. Was sagte ich, eine Folge? Zwei solche Folgen, die Dur= und Moll= Skala. Wenn wir dieselbe Folge von Abständen von einer anderen der zwölf Zwischenstufen aus ansetzen, so gibt es eine neue Tonart, und sogar eine fremde! Was für ein ge waltsam beschränktes System diese erste Verworrenheit er gab,

Man nennt es Harmonielehre.

steht in den Gesetzbüchern zu lesen: wir wollen es nicht hier wiederholen.

Wir lehren vierundzwanzig Tonarten, zwölfmal die beiden Siebenfolgen, aber wir verfügen in der Tat nur über zwei: die Dur=Tonart und die Moll=Tonart. Die anderen sind nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Trans positionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören: aber das ist eine Täuschung. In England, wo die hohe Stimmung herrscht, werden die bekanntesten Werke um einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert sind, ohne daßss ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vor ausgeht und folgt, untransponiert spielen.

Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten in drei verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke bleiben in allen drei Ausgaben vollkommen die nämlichen.

Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk herabschaut.

Könnte man eine Gegend, so weit das Auge reicht, um mehrere hundert Meter erhöhen oder vertiefen, das land schaftliche Bild würde dadurch nichts verlieren noch ge winnen.

Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur=Tonart und die Moll=Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt – eine Einschränkung fordert die andere.

Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegen sätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung von Symbolen erreicht – Dur und Moll – Maggiore e Minore – Befriedigung und Unbefriedigung – Freude und Trauer – Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter noch bis heute und übermorgen, abgezäunt.

So schrieb ich 1906. Die seither verflossenen zehn Jahre haben unser Ohr ein klein wenig erziehen geholfen.

Moll wird in derselben Absicht gebraucht und übt dieselbe Wirkung auf uns aus, heute wie vor zweihundert Jahren. Einen Trauer marsch kann man heute nicht mehr komponieren, denn er ist ein für allemal schon vorhanden. Selbst der ungebilde tetste Laie weiß, was ihn erwartet, sobald ein Trauermarsch – irgendwelcher! – ertönen soll. Selbst der Laie fühlt den Unterschied zwischen einer Dur= und Moll=Sinfonie voraus.

Seltsam, daßss man Dur und Moll als Gegensätze emp findet. Tragen sie doch beide dasselbe Gesicht; jeweilig heiterer und ernster; und ein kleiner Pinselstrich genügt, eines in das andere zu kehren. Der Übergang vom einen zum zweiten ist unmerklich und mühelos – geschieht er oft und rasch, so beginnen die beiden unerkenntlich ineinander zu flimmern. Erkennen wir aber, daßss Dur und Moll ein doppeldeutiges Ganzes und daßss die vierundzwanzig Ton arten nur eine elfmalige Transposition jener ersten zwei sind, so gelangen wir ungezwungen zum Bewußsstsein der Einheit unseres Tonartensystems. Die Begriffe von ver wandt und fremd fallen ab – und damit die ganze ver wickelte Theorie von Graden und Verhältnissen. Wir haben eine einzige Tonart. Aber sie ist sehr dürftiger Art.

Einheit der Tonart.

Sie meinen wohl, Tonart und Tonarten sind der Sonnenstrahl und seine Zerlegung in Farben?

Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes Ton=, Tonart= und Tonartensystem ist in seiner Gesamt heit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten Strahls jener Sonne Musik am Himmel der ewigen Harmonie.

So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit in des Menschen Weise und Wesen liegen – so sehr sind Energie und Opposition gegen Bestehendes die Eigenschaften alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen wider spenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und ändert unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahr nehmbarer Bewegung, daßss die Menschen nur Stillstand sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt ihnen das Über raschende, daßss sie die Getäuschten waren.

Deshalb erregt der Reformator Ärgernis bei den Menschen aller Zeiten, weil seine Änderungen zu unvermittelt und vor allem, weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator ist – im Vergleich zur Natur – undiplomatisch, und es ist ganz folgerichtig, daßss seine Änderungen erst dann Gültig keit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten Sprung wieder auf ihre feine, unmerkliche Weise eingeholt hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit gleichen Schritt ging, indessen die übrigen zurückblieben. Und da mußss man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung über die versäumte Strecke zu springen. Ich glaube, daßss die Dur= und Moll=Tonart und ihr Transpositionsverhältnis, daßss das Zwölfhalbtonsystem einen solchen Fall von Zurück gebliebenheit darstellen.

Daßss schon einige empfunden haben, wie die Intervalle der Siebenfolge noch anders geordnet (graduiert) werden können, ist in vereinzelten Momenten bereits bei Liszt und in der heutigen musikalischen Vorwärtsbewegung ausge sprochener zur Erscheinung gekommen. Der Drang und die Sehnsucht und der begabte Instinkt sprechen daraus. Doch scheints mir nicht, daßss eine bewußsste und geordnete Vor stellung dieser erhöhten Ausdrucksmittel sich geformt habe.

Ich habe den Versuch gemacht, alle Möglichkeiten der Abstufung der Siebenfolge zu gewinnen, und es gelang mir, durch Erniedrigung und Erhöhung der Intervalle 113 ver schiedene Skalen festzustellen. Diese 113 Skalen (inner halb der Oktave C–C) begreifen den größten Teil der bekannten 24 Tonarten, außerdem aber eine Reihe neuer Tonarten von eigenartigem Charakter. Damit ist aber der Schatz nicht erschöpft, denn die Transposition jeder ein zelnen dieser 113 steht uns ebenfalls noch offen und über dies die Vermischung zweier (und weshalb nicht mehrerer?) solcher Tonarten in Harmonie und Melodie. Ob die Zahl 113 hier eine Übertreibung Busonis darstellt, ist schwer zu sagen. Eine genauere algorithmische Betrachtung des Problems zeigt, dass unter Zuhilfenahme aller zwölf gleichstufigen Halbtöne innerhalb einer Oktave 729 siebentönige aufsteigende Skalen kombiniert werden können. Nach Eliminierung der in der Intervallstruktur identischen Skalen und Analyse der Tonleitern bezüglich nicht leitertypischer Elemente (z. B. chromatischer Passagen und aufeinanderfolgender Terzen) bleiben 59 siebentönige aufsteigende Skalen übrig. Mit 113 ist Busoni weder nahe an der einen noch an der anderen Zahl, was die Frage aufwirft, welche Ansprüche Busoni an eine solche von ihm neu erdachte Leiter überhaupt hat.

Die Skala c des es fes ges as b c klingt schon bedeutend anders als die des=Moll=Tonleiter, wenn man c als ihren Grundton annimmt. Legt man ihr noch den gewöhnlichen C=Dur=Dreiklang als Harmonie unter, so ergibt sich eine neue harmonische Empfindung. Man höre aber dieselbe Ton leiter abwechselnd, vom Aa=Moll=, Es=Dur= und C=Dur= Dreiklang gestützt, und man wird sich der angenehmsten Über raschung über den fremdartigen Wohllaut nicht erwehren können.

Wohin aber würde ein Gesetzgeber die Tonfolgen c des es fes g a h c | c des es f ges a h c | c d es fes ges a h c | c des e f ges a b c | oder gar: c d es fes g ais h c | c d es fes gis a h c | c des es fis gis a b c einreihen mögen?

Welche Reichtümer sich damit für den melodischen und harmonischen Ausdruck dem Ohr öffnen, ist nicht sogleich zu übersehen; eine Menge neuer Möglichkeiten ist aber zweifellos anzunehmen und auf den ersten Blick erkennbar.

Mit dieser Darstellung dürfte die Einheit aller Tonarten endgültig ausgesprochen und begründet sein. Kaleidoskopi sches Durcheinanderschütteln von zwölf Halbtönen in der Dreispiegelkammer des Geschmacks, der Empfindung und der Intention: das Wesen der heutigen Harmonie.

Der heutigen Harmonie und nicht mehr auf lange: denn alles verkündet eine Umwälzung und einen nächsten Schritt zu jener „ewigen“. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, daßss in ihr die Abstufung der Oktave unendlich ist, und trachten wir, der Unendlichkeit um ein weniges uns zu nähern. Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an die Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung. Wer, wie ich es getan, damit, wenn auch bescheiden, ex perimentierte und – sei es mit der Kehle oder auf einer Geige – zwischen einem Ganzton zwei gleichmäßig abstehen de Zwischentöne einschaltete, das Ohr und das Treffen übte, der wird zur Einsicht gelangt sein, daßss Dritteltöne voll kommen selbständige Intervalle von ausgeprägtem Cha rakter sind, mit verstimmten Halbtönen nicht zu verwechseln. Es ist eine verfeinerte Chromatik, die uns vorläufig auf der ganztönigen Skala zu basieren scheint. Führten wir dieselbe unvermittelt ein, so verleugneten wir die Halbtöne, verlören die kleine Terz und die reine Quinte, und dieser Verlust würde stärker empfunden als der relative Gewinn eines Achtzehndritteltonsystems.

Es ist aber kein Grund ersichtlich, seinetwegen mit den Halbtönen aufzuräumen. Behalten wir zu jedem Ganzton einen Halbton, so erhalten wir eine zweite Reihe von Ganz tönen, die um einen halben Ton höher steht als die erste. Teilen wir diese zweite Reihe von Ganztönen in Drittel teile ein, dann ergibt sich zu jedem Drittelton der unteren Reihe ein entsprechender Halbton in der oberen.

Somit ist eigentlich ein Sechsteltonsystem entstanden, und daßss auch Sechsteltöne einstmals reden werden, darauf können wir vertrauen. Das Tonsystem, das ich eben entwerfe, soll aber vorerst das Gehör mit Dritteltönen füllen, ohne auf die Halbtöne zu verzichten.

Zwei Dritteltonskalen im Halbtonabstand, in Form von zwei Systemen mit Ganztonreihen (von c bis ais bzw. cis bis h) und Drittelunterteilung der Ganztöne.

Um es zusammenzufassen: Wir stellen entweder zwei Reihen Dritteltöne, voneinander um einen halben Ton ent fernt, auf; oder: dreimal die übliche Zwölftonreihe im Abstande von je einem Drittelton.

Nennen wir, um sie irgendwie zu unterscheiden, den ersten Ton C und die beiden nächsten Dritteltöne Cis und Des; den ersten Halbton (klein-)c und seine folgenden Drittteile cis und des; – die vorhergehende Tabelle erklärt alles Fehlende.

Die Frage der Notation halte ich für nebensächlich. Wichtig und drohend ist dagegen die Frage, wie und worauf diese Töne zu erzeugen sind. Es trifft sich glücklich, daßss ich während der Arbeit an diesem Aufsatz eine direkte und authentische Nachricht aus Amerika erhalte, welche die Frage in einfacher Weise löst. Es ist die Mitteilung von Dr. Thaddeus Cahills Erfindung.

New Music for an old World. <persName key="E0300018">Dr. Thaddeus Cahills</persName> Dyna <lb break="no"/>mophone, an extraordinary electrical Invention for producing scienti <lb break="no"/>fically perfect music by Ray Stannard Baker. Mc. Clure’s Magazine, July 1906. Vol. XXVII, No. 3.

Über diesen transzendentalen Tonerzeuger berichtet Mr. Baker des wWeiteren: Der folgende Text ist eine freie Paraphrase Busonis, kein direktes Zitat des Artikels von Ray Stannard Baker. … Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Ton gebung bei allen Instrumenten führte Dr. Cahill zum Nachdenken. Material, Indisposition, Temperatur, klimatische Zustände beeinträch tigen die Zuverlässigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die Macht über den absterbenden Klang der Saite von dem Augenblick an, wo die Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung an der festgehaltenen Note nichts ändern. Dr. Cahill ersann die Idee eines Instruments, welches dem Spieler die absolute Kontrolle über jeden zu erzeugenden Ton und über dessen Ausdruck gewährte. Er nahm sich die Theorien Helmholtz’ zum Vorbild, die ihn lehrten, daßss die Verhältnisse der Zahl und der Stärke der Obertöne zum Grund ton den Ausschlag über den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente geben. Demnach konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grund ton schwingen läßsst, eine Anzahl supplementärer Apparate, von welchen jeder einen der Obertöne erzeugt, und konnte solche in beliebiger An ordnung und Stärke dem Grundton zuhäufen. So ist jeder Klang einer mannigfaltigsten Charakterisierung fähig, sein Ausdruck auf das emp findlichste dynamisch zu regeln, die Stärke vom fast unhörbaren Pia nissimo bis zur unerträglichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das Instrument von einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die Fähigkeit bewahrt, der Eigenart eines Künstlers zu folgen.

Eine Reihe solcher Klaviaturen, von mehreren Spielern gespielt, kann zu einem Orchester zusammengestellt werden.

Der Bau des Instrumentes ist außerordentlich umfangreich und kost spielig, und sein praktischer Wert müßsste mit Recht angezweifelt werden. Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, von einer Zentralstelle aus nach allen den mit Drähten verbundenen Plätzen selbst auf große Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu versenden; und ge lungene Experimente haben erwiesen, daßss auf diesem Wege weder von den Feinheiten noch von der Macht der Töne etwas eingebüßt wird. Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang er füllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals versagenden Klang; unsichtbar, mühelos und unermüdlich. Dem Bericht, dem ich diese Nach richten entnehme, sind authentische Photographien des Apparates bei gegeben, welche jeden Zweifel über die Wirklichkeit dieser allerdings fast unglaublichen Schöpfung beseitigen. Der Apparat sieht aus wie ein Maschinenraum.

Dieser Mann hat einen umfangreichen Appa rat konstruiert, welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom in eine genau berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen zu verwandeln. Da die Tonhöhe von der Zahl der Schwin gungen abhängt und der Apparat auf jede gewünschte Zahl zu „stellen“ ist, so ist durch diesen die unendliche Abstufung der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem Zeiger eines Quadranten korrespondiert.

Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fortgesetzte Erziehung des Ohres, werden dieses ungewohnte Material einer heranwachsenden Generation und der Kunst gefügig machen.

Welch schöne Hoffnungen und traumhafte Vorstellun gen erwachen für sie! Wer hat nicht schon im Traume „geschwebt“? Und fest geglaubt, daßss er den Traum erlebe? – Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen; befreien wir sie von architektonischen, aku stischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Er findung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes als die Natur, in der menschlichen Seele abgespiegelt und von ihr wieder zurückgestrahlt; ist sie doch tönende Luft und über die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso uni versell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann sich zusammenballen und auseinanderfließen, ohne an Intensität nachzulassen.

In seinem Buche Jenseits von Gut und Böse sagt Nietzsche:

Das Zitat umfasst den gesamten Abschnitt Nr. 255. Busonis Zitierpraxis (bzw. die des Verlages) folgt in Orthographie und Interpunktion den bis 1906 verfügbaren Ausgaben recht frei; wir weisen nur bedeutendere Abweichungen von der Erstausgabe nach.

Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, daß man Bei Nietzsche 1886 (219): Einer. den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine große Schule der Genesung, im Geistig sten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnenverklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurückverdirbt, ihm die Ge sundheit mit zurückverdirbt.

Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben Bei Nietzsche 1886 (220) Glauben mit Hervorhebung. nach, muß, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, viel leicht böseren und geheimnisvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen, wollüstigen Meeres und der mittelländischen Himmelshelle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt, wie es alle deutsche Musik tut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnenuntergängen der Wüste recht be hält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter großen, schönen, einsamen Raubtieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht. – –

Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestände, daß sie von Gut und Böse

Hier macht sich Nietzsche eines Widerspruchs schuldig; träumt er vorher von einer vielleicht „böseren“ Musik, so denkt er sich jetzt eine Musik, die von Gut und Böse nichts mehr wüßsste; – doch war mir bei der Anführung um den letzteren Sinn zu tun.

nichts mehr wüßte, nur daß vielleicht irgendein Schifferheimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von großer Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre …

Und Tolstoißsst einen landschaftlichen Eindruck zu Mu sikempfindung werden, wenn er in Luzern schreibt: Weder auf dem See, noch an den Bergen, noch am Himmel eine einzige gerade Linie, eine einzige ungemischte Farbe, ein einziger Ruhepunkt – überall Bewegung, Un regelmäßigkeit, Willkür, Mannigfaltigkeit, unaufhörliches Ineinanderfließen von Schatten und Linien, und in allem die Ruhe, Weichheit, Harmonie und Notwendigkeit des Schönen. Wird diese Musik jemals erreicht? Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll, verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum Nirwana.

Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent d’Indy: .... laissant de côté les contingences et les petitesses de la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu’on ne pourra ja mais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.

(Kern, Geschichte des Buddhismus in Indien).

Ist Nirwana das Reich Jenseits von Gut und Böse, so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte. Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt – oder das sich auftut, das zeitlich Zeitlich-Gewesene einzulassen. Jen seits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst.

Ich glaube gelesen zu haben, daßss Liszt seine <hi rend="antiqua">Dante</hi><pc>=</pc>Symphonie auf die beiden Sätze Inferno und Purgatorio beschränkte, weil unsere Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte.

Vielleicht, daßss wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdi schen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewußsst, öffnet sich das Gitter. –

Druck der Diererschen Hofbuchdruckerei in Altenburg.