Brief von Arnold Schönberg an Ferruccio Busoni (Steinakirchen am Forst, 24. August 1909) Arnold Schönberg Prepared by Vanda Hehr Theresa Menard Digitization by Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin Berlin Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften Briefe Briefwechsel Ferruccio Busoni – Arnold Schönberg Christian Schaper Ullrich Scheideler Kalliope-Verbund DE-611-HS-736371 Schönberg bittet um Verzeihung für seine Vergesslichkeit, verweigert Busoni die Veröffentlichung dessen Transkription des zweiten Stückes aus op. 11 und äußert sich zu einigen Stellen von Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. aus Ihrem Briefe an Herrn Dr. Schenker 5 Bogen 20 beschriebene Seiten 15,7 10,5 Foliierung in Schwarzer Tinte oben rechts auf der ersten Seite jedes Bogens durch den Verfasser. Der Brief ist gut erhalten; Briefumschlag an der Vorderseite links unvollständig (infolge Aufriss) aber ohne Schriftverlust. Hand des Absenders Arnold Schönberg, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift Adressstempel des Absenders Arnold Schönberg, mit violetter Tinte Hand des Archivars, der die Foliierung in Bleistift vorgenommen hat Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat Bibliotheksstempel (rote Tinte) Poststempel (schwarze Tinte) (Steinakirchen am Forst) 24. VIII 09-4 (Steinakirchen am Forst) 24. VIII 09-4
Herrn Ferruccio Busoni Berlin W30 Viktoria Luise=Platz 11.
Absender:
Arnold Schönberg – – – Wien – – – IX. Liechtensteinstraße 68/70
Steinakirchen am Forst Nied.Oesterr
Mus.ep. A. Schönberg 11 Busoni-Nachl. B II Mus.Nachl. F. Busoni B II,4550-Beil
Der Brief wurde in Steinakirchen am Forst am 24. August 1909 verfasst. Theurich 1977, S. ### Theurich 1979, S. ### (Brief), S. ### (Kommentar)

Seminar «Der Nachlass Ferruccio Busonis in der Staatsbibliothek zu Berlin: digitale Textedition ausgewählter Quellen mit TEI»

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Schönberg, Arnold Steinakirchen am Forst Busoni, Ferruccio Revisionselement hinzugefügt und revisionDesc auf status="unfinished" gesetzt. revisionDesc auf status="proposed" gesetzt
24/8.1909
Arnold Schönberg – – – Wien – – – IX. Liechtensteinstraße 68/70
derzeit: Steinakirchen am Forst
1 (Deutsche Staatsbibliothek Berlin) Sehr verehrter Herr Busoni,

ich muß muss mich vor Allem entschuldigen für etwas, woran ich nur theilweise teilweise schuld Schuld bin und nur auf eine Art schuld Schuld bin, die Nachsicht zuläßt zulässt . Ich hatte schon, als ich die erste Hälfte des vorigen Briefes schrieb vor, Sie um Ihre Bearbeitung Gemeint ist Busonis Bearbeitung des zweiten Stückes aus Schönbergs op. 11. zu erfragen, vergaß aber daran. Dann nahm ich mir vor, es in der Nachschrift zu thun tun und vergaß wieder. Schließlich wollte ich diesem langen Brief noch eine Postkarte folgen lassen – aber ich vergaß zum drittenmal dritten Mal . Haben Sie Nachsicht mit Vergeßlichkeit Vergesslichkeit ? Ich bin sehr auf die ge ange wiesen, da sie mich stets in Konflikte bringt. Ich hoffe, Sie nehmen diese Sache nunmehr nur von dieser Seite und Ihre Verstimmung ist aus diesem Grund ist aus der Welt geschafft.

Nun aber bitte ich Sie recht sehr,b mir Mus.ep. A. Schönberg 11 (Busoni-Nachl. B II) Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4550 Ihre Transkription des 2. Stückes aus Op. 11 von Schönberg so bald wie möglich zu schicken; ich bin wirklich begierig den „Motivenbericht“ zu Ihrem Verbesserungs-An trag kennen zu lernen.

Ferner muß muss ich Ihnen sehr danken für Ihren in Anbetracht Ihrer berechtigten Verstimmung wirklich großherzigen Antrag Antrag, dem das eine Stück und Ihre Paraphrase davon abzudrucken.Gemeint ist Busonis "Konzertmäßige Interpretation" von Schönbergs Klavierstück op. 11 Nr. 2. Aber da sind frische Schwierigkeiten, daß dass ich wirklich nicht weiß, ob wir uns werden einigen können. Zunächst, wie materiell, müßte müsste der Abdruck so geschehen, daß dass dasmeine Recht e das Stück nochmal heraus dadurch zu geben geben, nicht tangiertewerde, weil mir sonst ein Opus zerrissen würde. Dazu hätte ich außerdem die Zustimmung meines Verlegers nötig, die ich ja allerdings leicht bekommen könnte. Dann bedrückt es mich, das ganze Honorar anzunehmen, wo ja Ihre Bearbeitung ebenfalls Anspruch geltend machen sollte.

Aber das Wichtigste und Entscheidendste für mich ist doch die künstlerische Frage 2 dabei. Und ob wir da einen Ausfweg fin den werden….?..?

Sie müssen doch sich folgendes vorstellen: Ich kann doch unmöglich mein Stück herausgeben und daneben eine Bearbeitung, die zeigt wie ich es hätte besser machen sollen. Die also zeigt, daß dass meine Komposition unvollkommen ist. Und ich kann doch unmöglich, derjenigen Öffent lichkeit, der ich den Glauben beibringen will, mein Stück sei gut, gleichzeitig zeigen daß dass es schlecht ist.

Ich dürfte das – aus Selbsterhaltungstrieb – nicht einmal, wenn ich es selbst glaubte. In diesem Fall muss ich mein Stück ent weder vernichten, oder es selbst umarbeiten.

Nun aber – Sie verzeihen meine rückhaltslose Offenheit, wo ich Ihnen die Ihre nicht übelnehme – ich glaube es absolut nicht. Ich bin fest überzeugt, dass Sie diesem Stücken Unrecht thun tun . Ich bin fest überzeugt, daß dass Sie denselben Fehler begehen, den jeder phantasie volle Kritiker begeht: Sie wollen nicht sich auf den Standpunkt des Autors stellen, sondern 3 wollen im Werke eines andern sich selbst, durchaus sich selbst finden. Und das geht eben nicht. Es giebt gibt keine Kunst, die ganz der Eine ist ist, der sie geschaffen und gleichzeitig ganz der Andre Andere, der sie genießt. Einer muß muss nachgeben nachgeben, und ich glaube, es muß muss das der Genießer sein.

Und Ihre Motivierung scheint mir auch ganz unrichtig, wenn Sie meinen meinen, daß dass ich, unnützer weise auf schon Errungenes Verzicht leistend anders anders, aber nicht reicher werde.

Ich glaube nicht an den neuen Wein, den man in alte Schläuche füllt. Ich habe in der Kunstgeschichte die entgegengesetzte Beobachtung gemacht:

Die kontrapunktische Kunst Bachs ist verloren, wenn Beethovens melodische Homophonie beginnt, die Formenkunst Beethovens wird verlassen, wenn Wagners Ausdrucks=Kunst beginnt.

Die Einhheit der Zeichnung, die Reichheit des Colorits Kolorits , die frühere Durcharbeitung jedes Details, das sorgfältige Herausmodellieren, das Untermalen und das Lasurieren, das Konmponieren im Raum und alles Andre Andere, was die ältere Malkunst aus macht macht, hört einfach 4 auf auf, wenn die Impressionisten anfangen die Dinge so zu malen, wie sie scheinen und nicht so so, wie sie sind.

Jawohl, wenn eine neue Kunst neue Ausdrucksmittel sucht und findet, dann geht zumindest immer fast alles schon Errun gene zum Teufel: scheinbar wenigstens; denn ich in der Tat ist es doch drin; aber auf eine Aandre Art . xxxxxxxxx (das auseinanderzusetzen würde zu weit führen) .

Und nun: Ich muß muss sagen, ich habe eigent lich auf mehr verzichtet, als auf einen Klavier klang, als ich begann begann, meiner Natur ganz zu folgen und solche Musik zu schreiben. Ich finde, wenn man verzichtet auf eine Formenkunst, eine Architektur der Ober stimme, eine Kunst der motivischen Polyphonie von einer Höhe desr Könnens Vollendung, wie sie in den letzten Jahrzehnten von Brahms, Wagner und anderen auch Modernen erreicht wurde – dann kommt Einem das bißchen bisschen Klavierklang sogar als recht wenig vor. Und ich behaupte: 5 Man muß muss die geheimnisvollen Wunder unser tonalen Harmonik, ihre unerhört ausgewogenen architektonischen Werte und Ihre Kabbalistischen kabbalistischen mathematischen so begriffen und bewundert, angestaunt haben, wie ich um, wenn man auf Ssie Verzicht leistet zu fühlen, daß dass man ihrer nicht mehr bedürfed, anderen Mitteln gebietet: dagegen erscheinen klangliche Fragen, deren Reiz kaum im selbem Maße der Ewigkeit angehörten, als Kleinigkeiten.

Trotzdem aber stehe ich auch in dieser Frage auf einem Standpunkt, der es ab solut nicht nötig hat hat, für den eines Verzichtenden, Verlierenden angesehen zu werden. Sähen Sie meine neuen Orchestersachen, so könnten Sie auch an denen sehenbemerken, wie ich mich deutlich abwende von dem vollen „Götter- und Uebermenschen- Übermenschen- Klang“ des Wagnerschen Orchesters. Wie alles zarter dünner wird. Wie gebrochene Farbentöne stehen, wo sonst helle, leuchtende 6 Mus.Nachl. F. Busoni B II,4550 waren. Wie meine ganze Orchestertechnik einen Weg geht, der geradezu das Gegentheil Gegenteil von dem zu werden scheint, der vorher be schritten wurde. Das ist, finde ich, die natürliche Reaktion. Wir haben die vollen, Klweichen Klänge Wagners, satt, zum Ueberdruß- Überdruss- : „Nun laßt lasst uns andere Töne anstimmen …“Anspielung auf den Schlusssatz von Beethovens 9. Symphonie, der beginnt mit: "O Freunde, nicht diese Töne, sondern lasst uns angenehmere anstimmen".

Und nun kommt dazu, daß dass ich (ich muß muss das wiederholen) mich für berechtigt halte zu glauben, mein Claviersatz Klaviersatz , brächte Neues. So belehrt mich nicht nur meine Empfindung. Auch Urtheile Urteile von Freunden und Schülern drücken das aus, die meinen das meinen, dass mein Klaviersatz klanglich absolut Neues bringe.

Die Sache steht also für mich so: Ich glaube mein Klaviersatz ist nicht das Ergebnis eines Unvermögens, sondern der Ausdruck eines festen Willens, bestimmter Neigungen, greifbar deutlicher Empfindungen. Was er nicht thut tut , ist nicht: was er nicht kann sondern, was er nicht will.

7

Was er thut tut : ist nicht was auch besseranders geschehen könnte, sondern was er thun tun muß muss . Er hat also Eigenart, Stil und ist organisch. —

Ein Eine Transkription dagegen erweckt in mir die Befürchtung, daß dass Sie entweder hineinträgt, was ich grundsätzlich, oder meinen Neigungen folgend vermeide;

hinzugefügt, was ich – in den Grenzen meiner Persönlichkeit – nie hätte finden können, was nun also fremd, oder unerreichbar ist;

ausläßt, auslässt, was mir nothwendig notwendig scheint, verbessert, worin ich unvollkommen bin und unvollkommen bleiben muß muss . Eine Transkription thut tut mir also unbe dingt Gewalt an: Ob Sie sie meinem Werk nun nützt oder schadet.

Sie schreiben auch über Transkription in Ihrer Broschüre, Vgl. in Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst den Abschnitt über Notation und Transkription (S. 17–19 der Erstausgabe). die mir außerordentlich gefällt und die wirklich beweist, wie dieselben Ideen in derselben Zeit, gleichzeitig in ver schiedenen Köpfen auftauchen. Ich bin insbe 8 sondere mit Ihrer Konstatierung sehr einver standen, daß dass schon jede Notation überhaupt Transkription ist. Ich habe schon vor Jahren ähnlich argumentiert, als die Öffentlichkeit Mahler angriff, wegen seiner Instrumen tations- Aenderungen Änderungen bei BeethovenMahler hat insbesondere die Instrumentation von Beethovens 7. und 9. Symphonie retuschiert..

Aber das ist doch auch noch eine andere Sache: Ob man Beethovens zweifellos veraltete Instrumenten behandlung und Instrumentation verbessert auf Grundlage zweifellos besserer neuerer Instrumentations-Erfahrungen, und ob man meinen Klavierstyl Klavierstil verbessert durch ältere Technik oder eine deren bessere Geeignetheit zumindest heute noch nicht so absolut festgestellt ist, so über jeden Zweifel erhaben ist.

Ich kann das wohl, da ich ja Ihre Transkription noch nicht kenne, gegen wärtig sagen, ohne daß dass sie es als eine allzustarke Kritik ansehen dürfen. Denn Ihre Bearbeitung kann mich ja 9 noch immer eines Anderen belehren. Aber auch abgesehen davon, bin ich sicher, daß dass Sie mir die Schärfe nicht übelnehmen, bin dessen sicher, weil sie ja sonst selbst wohl nicht so scharf und hart über meine Werke urteilten.

Und nun finde ich doch etwas, das mir als Einwand gegen Sie geeignet scheint. Halten Sie denn wirklich so unendlich viel von der Vollkommenheit? Halten Sie denn wirklich diese für erreichbar? Meinen Sie denn wirklich, daß dass Kunstwerke vollkommen sind oder sein müssen?

Ich finde das nicht. Ich finde sogar Gottes Kunstwerke, die der Natur höchst unvollkommen.

Aber für vollkommen finde ich nur die Werke der Drechsler, Gärtner, Zuckerbäcker und Friseure. Nur die haben jene Glätte, jenes Ebenmaß, das ich sooft zum Teufel gewünscht habe. Nur sie genügen so allen Anforderungen, die 10 man an sie stellen kann und sonst nichts Menschliches, Gottähnliches auf der Welt.

Und wenn: Notation Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (149): Notation ohne Hervorhebung. = Transkription = Unvollkommenheit

so ist doch auch: Transkription Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (149): Transkription ohne Hervorhebung. = Notation = Unvollkom̅enheit.Unvollkommenheit. Denn wenn a = b und b = c so ist auch a = c.

(DeutscheStaatsbibliothekBerlin)

Wozu also die eine Unvollkommenheit durch die andere ersetzen.

Wozu jene eliminiereneliminieren, die - vielleicht ihrenden Reiz eines Werkes ausmacht, und diese dafür substituieren, die ihm einen ihm fremden giebtgibt.

Gehörten nicht zum EigenthümlichenEigentümlichen einer Persönlichkeit auch deren Fehler dazu? Wirken diese, wenn schon nicht als schön, so doch wenigstens als Kontraste, als die Grundfarbe, von der sich die anderen Farben deutlich abheben?

Ich habe oft daran gedacht, daßdass man Schumanns Symphonien (den Sie wie ich meine sehr unterschätzen Die Stelle, auf die Schönberg hier Bezug nimmt, findet sich in Busonis Schrift in einem Abschnitt, in dem dieser die Festlegung vergangener Komponisten auf die Regeln und Formen der jeweiligen Zeit kritisiert, und meint, dass die bis dato einzig wahre und freie Musik in „Vorspielen und Übergängen“ (Busoni 1907 S. 9) zu finden sei: „Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift, an solchen Stellen Etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst […]" (ebd.).
 An anderer Stelle heißt es: „Im Übrigen muten die meisten Klavier-Kompositionen Beethovens wie Transcriptionen vom Orchester an; die meisten Schumann’schen Orchesterwerke wie Übertragungen vom Klavier – und sind’s in gewisser Weise auch.“ (ebd. S. 18). und den ich heute weit über 11 Brahms stelle) auf die Beine helfen solltesollte, indem man ihre Theurich 1977 (165) fälschlich: Ihre Instrumentation verbesserte. Ich war mir auch um alles Theoretische daran ganz klar. Heuer im Sommer habe ich mich ein wenig selbst damit befaßtbefasst und – habe den Mut dazu verloren. Denn ich sehe zu genau, daßdass stets mit dem was mißlungenmisslungen ist, etwas sehr Eigenartiges gemeint war und ich habe nicht den Mut Mut, einen nicht ganz zur Wirklichkeit gelangenden interessanten Einfall durch einen „sicheren" Klang zu ersetzen. Und mehr kann die Phantasie eines Anderen an einem wirklichen Kunstwerk nicht leisten! —

Rein technisch = musikalisch möchte ich Sie nun nur noch fragen, ob Sie nicht vielleicht ein zu langsames Tempo genom̅engenommen haben. Das könnte ja viel ausmachen. Oder zu wenig Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (149): wenig fälschlich mit Hervorhebung. rubato. Ich bleibe niemals im Takt! niemalsNiemals im Tempo! —

Ihr „Entwurf einer neuen Aesthetik der <lb/>Tonkunst" gefällt mir vor allem durch seine Kühnheit außerordentlich. Insbesondere im An 12 [4] fange stehen da ein paar kräftige Sätze, von zwingender Logik und hervorragender Schärfe der Beobachtung. UeberÜber Ihre Ideen mit den Dritteltönen Busonis Idee von der Zukunft der Musik beinhaltet unter anderem eine Erweiterung des Tonraumes. In seinem Entwurf einer neuen Aesthetik der Tonkunst heißt es: „Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an die Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung.“ (Busoni 1907 S. 28 f.). Im Nachlass Busonis finden sich Skizzen zur dieser Thematik, mit der Busoni sich nach eigenen Angaben bereits seit circa 1906 befasst (vgl. Weindel 2006 [1922] S. 118).
 habe ich, allerdings auf andere Weise auch schon viel nachgedacht. Ich dachte aber mehr an Vierteltöne, sind bin aber jetzt der Ansicht, daßdass diese Sache auf einem anderen Wege, als auf dem der Konstruktion, kommen wird. UeberdiesÜberdies hat ein Schüler von mir Dr. Robert Neumann war von 1907 bis 1909 Schüler bei Schönberg (vgl. Schönberg 1911 S. 23). auf meine Anregung hin ausgerechnet, daßdass die nächste TheilungTeilung der OktaveOktave, die ähnliche Verhältnisse haben würde wie unsere 12theiligezwölfteilige, 53tel=Töne Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (149): 53tel Töne. einführen müßtemüsste. Wenn Sie nun 18 Drittel=TöneDritteltöne annähmen, käme das dem einigermaßen nahenahe, denn 3 x 18 = 54. Da entfielen dann allerdings die Halb töne ganz Hier liegt ein Verständnisfehler Schönbergs vor: Nach Busonis Idee erfolgt eine Einteilung der Oktave in 18 Dritteltöne. Um dabei nicht auf Halbtöne – und somit auf die kleine Terz und die reine Quinte – verzichten zu müssen, soll der ersten Dritteltonreihe eine zweite, um einen Halbton verschobene, hinzugefügt werden. Daraus ergeben sich letztlich 36 Intervalle und nicht die von Schönberg berechneten 54 (Weindel 2006 [1922] S. 118, Busoni 1907 S. 42). .

Für die Vierteltöne hatte ich mir seiner zeit folgende Notation erdacht:

Vierteltonbezeichnung mit mathematischen, von den eigentlichen Notenköpfen ausgefüllten Größer-als- bzw. Kleiner-als-Zeichen. < und > Zeichen aus der Mathematik 13

Ich glaube aber, daßdass derartige Notierungs versuche kaum werden durchdringen; denn ich hoffe mit viel Zuversicht, daßdass unsere zukünftige Notenschrift eine – wie soll ich sagen: „drahtlosere" sein wird.

Auch über die Tonarten Busoni thematisiert in seiner Schrift die Verbrauchtheit des Dur-Moll-Systems. Durch neue Kombinationen der Reihenfolgen von Halbtönen und Ganztönen errechnete er sich 113 neu entstehende Skalen (vgl. Busoni 1907 S. 27 f.). Schönberg schreibt dazu später in seiner Harmonielehre: „[…] die Plage, Hunderte von Skalen auszurechnen, könnte er sich ersparen. Ich habe mir mit Müh’ und Not die Namen der sieben Kirchentonarten gemerkt; und das waren „erst die Namen!“ Ich werde mir nicht fünf von seinen Tonarten merken können. Wie soll ich dann aber komponieren – wenn ich sie gar nicht vor mir habe.“ (Schönberg 1911 S. 747) bin ich anderer Meinung – das bezeugt ja meine Musik. Ich glaube: allesAlles dasdas, was man mit 113 Tonarten machen kann, könnte man auch mit 2 oder 3 oder 4: Dur = Moll, Ganzton,Ganzton und Chromatische. Jedenfalls bin ich seit langem dahinter her die Fesseln der Tonarten ganz abzustreifen. Und meine Harmonik kennt keine an Tonarten erinnernden Akkorde oder Melodien mehr.

Nun zur Beantwortung Ihrer Fragen.

Wieweit ich diese Absichten verwirkliche? Nicht so weitweit, als ich gerne möchte. Ganz genügt mir noch kein Stück. Ich möchte noch bunter werden an Motiven und melodieun Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (149): melodieunähnlichen ohne Hervorhebung. ähnlichen Gestaltungen; ich möchte noch freier und ungezwungener sein im Rhythmus, in den 14 Taktarten freier von Motivwiederholungen und melodie-artigemmelodieartigem Fortspinnen eines Gedankens. Das schwebt mir vor: so phanta siere ich Musik, bevor ich sie notiere = transkribiere. Und dazu kann ich mich nicht zwingen; da mußmuss ich wartenwarten, bis mir ein Stück ganz von selbst so gelingt, wie es mir vorschwebt Schönbergs hier dargestellte Art zu komponieren steht im klaren Gegensatz zu Busonis Kompositionstechnik. Dieser unterteilt den Kompositionsvorgang in drei Phasen: „Zuerst kommt die Idee, dann entsteht oder man sucht den Einfall, dann folgt die Ausführung.“ (Weindel 2006 [1907] S. 33). Die intellektuelle, berechnende Vorgehensweise hat wenig mit der transzendent erscheinenden Transkription Schönbergs gemein. Dies mag auch ein Grund dafür sein, weswegen Busoni Schönbergs Arbeitsweise für sich selbst ablehnend als anarchisch bezeichnete (vgl. Weindel 2006 [1911] S. 58 und Weindel 1999 S. 29 ff. sowie S. 126). .

Und damit bin ich auch zur Beantwortung Ihrer anderen Frage gelangt: wievielwie viel Absichtliches und wievielwie viel Empfundenes dabei sei.

Meine einzige Absicht ist:

keine Absicht zu haben!

Keine formelle, keine architektonische, keine sonstige artistische, (als etwa die Stimmung eines Gedichtes zu treffen) keine ästhetische – überhaupt keine; oder höchstens die:

dem Strom meiner unbewußtenunbewussten Empfindungen nichts Hemmendes in den Weg zu legen. Nichts da hinein geraten zu lassen, was durch die Intelligenz oder 15 durch das BewußtseinBewusstsein hervorgerufen ist.

Kennten Sie meine Entwicklung, so würden Sie amn dem nicht zweifeln. Aber ich habe mich ja auch auf diese Frage gefaßtgefasst gemacht und so kann ich sie beantworten. Ich habe gewußtgewusst, daßdass man an der Natürlichkeit meiner Absichten zweifeln wird, eben weil sie natürlich sind. DaßDass man sie construiertkonstruiert finden f wird, eben weil ich alles Konstruktions=MäßigeKonstruktionsmäßige vermeide.

(DeutscheStaatsbibliothekBerlin)

Aber, wenn man sieht, wie ich mich stufenweise entwickelt habe, wie ich längst einer Ausdrucksform nahe war zu der ich mich heute klar und rückhaltsrückhalt los bekenne, wird man verstehen, daßdass da nichts Unorganisches, nichts „Verschmockt= Asthetisches"Ästhetisches" Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (149) stillschweigend Ästhetisches. vor sich geht, sondern daßdass ein Müssen dieses Resultat hervorgebracht hat.

DaßDass ich mir heute darüber auch theoretisch ziemlich klar bin, kann mir nur der UebelÜbel nehmen, der sich den unbewußtunbewusst 16 [5] schaffenden Künstler nur als eine Art Halb=KretinHalbkretin vorstellen kann; und der sich keinen Begriff davon macht, daßdass nach dem unbewußt = geschaffenenunbewusst Geschaffenen die Zeit des ruhigen klaren Schaffens kommtkommt, in der man sich Rechenschaft giebtgibt über seine Zustände.

Was das dritte Stück anbelangt, das Ihnen, wie mich Ihre herbe Kritik vermuten läßtlässt, gar nicht gefällt, so meine ich daßdass es schon wesentlich über das hinaus geht, was den beiden anderen gelingt. Mindestens was die früher erwähnte Bunt heit anbelangt. Aber auch im „Harmonischen" – wenn man hier so architektonisch reden darf – scheint mir manches anders darin. Insbesondere: manches dünnere, zweistim̅igerezweistimmigere. Aber ich halte es auch für ungerecht zu ver langen, daßdass man in 3 Kleinendrei kleinen Klavier stücken die Musik dreimal auf ver schiedene Arten revolutioniert. Schiene 17 es nicht berechtigt, wenn man sich so weit außer halb des Herkömmlichen gestellt hat, nun einen Augenblick zu verschnaufen, neue Kräfte zu sammeln, ehe man weiter stürmt? Und ist es nicht unrechtUnrecht das Lakonische als Maniriertheit zu bezeichnen? Ist das Architektonische nicht ebenso Manier, wie das Pointilistische und das Impressionistische? Oder ist es ein Fehler nicht lang zu werden, wenn man mit kurz vollkommen auskommt? MußMuss denn gebaut werden? Ist die Musik denn eine Sparkasse? Wird es unbedingt mehr, wenn es länger ist?

Sollte das ein Fehler sein, daßdass ich dort so kurz bin, dann macht dieser Brief ihn wett! Aber es gab da doch einige Dinge, die ich sagen wollte – daßdass ich es nicht kürzer konntekonnte, liegt wohl an meiner technischen Unbeholfen heit.

Und nun zum SchlußSchluss: Ich hoffe 18 Sie sind mir nicht bös über meine Offenheit und bewahren mir Ihr Interesse.

Vielleicht finden Sie einen Ausweg, eine Erklärung, die es mir möglich macht mein Stück, in Ihren Heften zu veröffentlichen Schönbergs Stücke wurden in Busonis „An die Jugend“ nicht veröffentlicht. Sie erschienen erst ein Jahr später 1910 bei der Universal Edition. Zwei bis drei Wochen danach veröffentlichte Busoni seinerseits im selben Verlag seine Bearbeitung von op. 11 Nr. 2, was Schönberg kritisch zu Kenntnis nahm, er sich jedoch zugleich bewusste war, „was es heißt, von einem bedeutenden Pianisten so ernst genommen zu werden“ (Ermen 1996 S. 74). Busoni schrieb zu seiner Bearbeitung: Diese Komposition fordert vom Spieler die verfeinertste Anschlags- und Pedalkunst; einen intimen, improvisierten, ‚schwebenden‘ Vortrag; ein liebevolles Sichversenken in seinen Inhalt, dessen Interpret – rein als Klaviersetzer – hiermit sein zu dürfen, sich zu künstlerischer Ehre rechnet. F.B. (Weindel 2006 S. 125).

Oder aber: Vielleicht bringen Sie alle drei und die Paraphrase, mit einer Erklärung ein ander mal??andermal??

Jedenfalls hoffe ich Ihr WolwollenWohlwollen Theurich 1977 (165) und Theurich 1979 (149) fälschlich Wohlwollen. nicht zu verlieren, wenn ich Sie nun auch bitte mir mitzuteilen, ob Sie die Stücke auch spielen wollen. Denn daran liegt mir selbstverständlich auch enorm viel Arnold Schönberg, den er intensiv zur Kenntnis nimmt, hat er öffentlich nie gespielt.“ (Ermen 1996 S. 43).
 Das einzige Werk, das Busoni von Schönberg zu Aufführung bracht waren Heinrich Schenkers Syrische Tänze, die Schönberg 1903 für das Orchester uminstrumentiert hatte. .

Noch etwas Eigentümliches zum SchlußSchluss: Ehe ich diese Klavierstücke komponiert hatte, wollte ich mich an Sie wenden – ich kannte Ihre Vorliebe zu Transkriptionen – mit der Frage, ob Sie nicht eines meiner Kammer- oder Orchesterwerke als Trans 19 kription für Klavier allein, in Ihre Konzerte aufnehmen wollten.

Eigentümlich: Nun treffen wir wieder bei einer Transkription zusammen!

War das eine von mir mißverstandemissverstandene Nachricht meines unbewußtenunbewussten Ahnungsvermögens, die mich an Sie im Zusammenhang mit einer Transkription denken hieß.

Das fiel mir neulich erst ein!

Ich hoffe bald eine freundliche Antwort zu erhalten und empfehle mich bis dahin mit vollster Hochachtung und Wertschätzung Ihr ergebener Arnold Schönberg (DeutscheStaatsbibliothekBerlin) Nachlaß Busoni 20