Brief von Arnold Schönberg an Ferruccio Busoni (Berg am Starnberger See, 29. August 1911) Arnold Schönberg Prepared by Maximilian Furthmüller Digitization by Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin Berlin Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften Briefe Briefwechsel Ferruccio Busoni – Arnold Schönberg Christian Schaper Ullrich Scheideler Deutschland Berlin Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv Nachlass Ferruccio Busoni Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4555 Mus.ep. A. Schönberg 16 (Busoni-Nachl. B II) Kalliope-Verbund DE-611-HS-736389 Nach einer knapp einjährigen Unterbrechung des Briefwechsels berichtet Schönberg Busoni von der erzwungenen Abreise mit seiner Familie aus Wien nach Berg und den daraus resultierenden finanziellen Problemen, die Schönberg angesichts eines ohnehin geplanten Umzugs nach Berlin mit Hilfe Busonis lösen möchte. ich erfuhr, daß Sie sich für die Uebersiedlung nach Berlin 1 Bogen 4 beschriebene Seiten Foliierung in Bleistift unten rechts der jeweiligen Vorderseiten durch das Archiv. Der Brief ist gut erhalten. Hand des Absenders Arnold Schönberg, Brieftext in schwarzer Tinte, in deutscher Kurrentschrift Hand des Archivars, der die Foliierung in Bleistift vorgenommen hat Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit schwarzem Stift vorgenommen hat Bibliotheksstempel (rote Tinte) Bibliotheksstempel (blaue Tinte) Hand eines Postbediensteten, der den Umschlag mit blauem Stift beschriftet hat Poststempel (schwarze Tinte)

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Herrn Professor Ferruccio Busoni Berlin W. / 30 Viktoria-LouiseLuise-Platz 11
Arnold Schönberg in Berg am Starnberger See, Bayern bei Herrn Widl
Nachlaß Busoni B IIMus.ep. A. Schönberg 16 Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4555-Beil.

Der Brief wurde in Berg (Starnberger See) am 29. August 1911 verfasst. Theurich 1977, S. 186 f. Theurich 1979, S. 185 ff. (Brief), S. 102–104 (Kommentar)

Seminar «Der Nachlass Ferruccio Busonis in der Staatsbibliothek zu Berlin: digitale Textedition ausgewählter Quellen mit TEI»

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Schönberg, Arnold Berg am Starnberger See Busoni, Ferruccio RevisionDesc auf status="unfinished" gesetzt. Dokument auf Status="proposed" gesetzt.
Mus.ep. A. Schönberg 16(Busoni-Nachl.B II) Mus.Nachl. F. BusoniB II, 4555
Berg am Starnberger-SeeStarnberger See bei Zimmermeister Widl, Bayern
29/8. 1911 Verehrter Theurich 1977 (186) und Theurich 1979 (185): „Verehrter“. Herr Busoni,

ich erfuhr, daßdass Sie sich für die UebersiedlungÜbersiedlung nach Berlin, die man mit mir vor hatvorhat, interessieren.Schönbergs Überlegung, Wien zu verlassen und nach Berlin zu ziehen, ist besonders vor dem Hintergrund der letzten Monate zu betrachten. Seine wirtschaftliche Situation war trotz des Zuwachses von Schülern und wachsender Bekanntheit alles andere als gesichert, was besonders anlässlich des Aufenthalts in Berg erneut ersichtlich wurde. Darüber hinaus blieb ihm die erhoffte Professur an der Wiener Akademie, vermutlich aus antisemitischen Gründen, zunächst verwehrt (Stuckenschmidt 1974, S. 128 ff.). Von Berlin erhoffte er sich eine wesentliche Besserung der pekuniären Nöte und besonders die Möglichkeit, Anerkennung (vgl. Weber 1995, S. 60) sowie neue Wege zur künstlerischen Entwicklung zu finden (Brand (u. a.), 2007, S. 60 ff.). Die Bekanntschaft mit Kandinsky und Reinhardt, sowie der Tod Mahlers mögen die Entscheidung ebenfalls beeinflusst haben (Stuckenschmidt 1974, S. 133 f.). Dabei scheint Schönberg lange fest mit einer Rückkehr nach Wien gerechnet zu haben (Brief von Schönberg an Bopp vom 22. August). Die endgültige Entscheidung fiel erst aufgrund des erfolgreichen Aufrufs im Pan (vgl. Kommentierung des Briefes vom 16. September) (Theurich 1979, S. 105). Dass Schönberg hier eine Art passive Formulierung wählt, mag auf die vorangegangenen Bemühungen seiner Berliner Unterstützer – z.B. durch Clark (vgl. Brief von Clark an Schönberg vom 9. Juni 1911) – anspielen. Da jetzt durch ein unglückseliges Ereignis zu dieser Angelegenheit ein beschleunigendes Element hinzugetreten ist, das eine Situation erzeugt hat, zu deren Entwirrung eine starke Hand nötig ist, wende ich mich an Sie.

Ich kann Ihnen die ganze Geschichte nicht erzählen; sie ist zu lang und zu unglaublich. Ich sage morgen alles Fried, der Ihnen Bberichten wird.Fried, der mit Schönberg und Busoni bekannt war und sich stark für eine Förderung ihrer Werke einsetzte (Schmidt 2002, Sp. 130), stand bereits im Juli und August mit Schönberg bezüglich einer möglichen Übersiedlung nach Berlin in Kontakt (vgl. Briefe Frieds an Schönberg vom 6., 11. und 26. Juli sowie 23. August). Am 31. August traf Fried Schönberg in München, wo dieser Reinhardt kennenlernte (Stuckenschmidt 1974, S. 130). Fried scheint demnach direkt im Anschluss nach Berlin zurückgekehrt zu sein; mit Busoni stand er gewiss aufgrund der bevorstehenden Aufführung der Turandot-Musik (Stuckenschmidt 1967, S. 37) in enger Verbindung (vgl. hierzu Kommentierung des Briefes vom 19. September 1911). Die Hauptsache ist folgendesFolgendes: Ein mit mir im selben Hause in Wien wohnender Unmensch, der zweifellos wahnsinnig ist (was sich aber vorderhand ärztlich nicht konstatieren läßt)lässt), bildet sich ein, daßdass er mich umbringen mußmuss. Was er als Grund für seine Wut angiebtangibt, sind Lügen, aber selbst selbst Theurich 1977 (186) und Theurich 1979 (186): „selbst“. als solche so belanglos, daßdass sie diese Wut, die mir nach dem Leben trachtet, nicht zu rechtfertigen geeignet istsind. Der GefahrGefahr, entweder selbst umgebracht zu werden, oder wegen UeberschreitungÜberschreitung der Notwehr eingesperrt zu werdenwerden, und den damit verbundenen Aufregungen,Aufregungen mußte ich,musste ich nach verschiedenen vergeblichen VersuchenVersuchen, mir durch die Behörden, oder sogar durch den Revolver, [1] (DeutscheStaatsbibliothekBerlin) Ruhe und Sicherheit zu verschaffen, am 4. August mich durch eine Flucht mit meiner Familie vor läufig entziehen. Deshalb kam ich hieher Theurich 1977 (186) und Theurich 1979 (186) fälschlich: „hierher“. hierher.In den Wochen vor Schönbergs Abreise war es mehrfach zu hitzigen Auseinandersetzungen mit dem im gleichen Haus wohnenden Ingenieur van Wouvermans gekommen; Gegenstand der Auseinandersetzung war die Behauptung von Wouvermans, die damals neunjährige Gertrude habe einen schlechten Einfluss auf die eigenen Kinder. Nach zahlreichen Beschwerden gegen Wouvermans wurde dessen Mietvertrag am 4. August 1911 gekündigt, woraufhin der Streit eskalierte und Schönberg mithilfe einer von Polnauer besorgten Pistole den Ingenieur davon abhalten musste, in seine Wohnung einzudringen (Brand (u. a.), 2007, S. 57). Daraufhin reiste Schönberg zunächst alleine nach Berg ab – Mathilde sowie die Kinder Gertrude und Georg konnten erst einige Tage später nachkommen (Stuckenschmidt 1974, S. 129 f.). Nun aber hoffte ich, die Angelegenheit durch den Advokaten inzwischen in Ordnung zu bringen, sehe aber nach mehreren hin und her=SchreibereienHin-und-Her-Schreibereien, daßdass ich keine Aussicht habehabe, mir den zweifellos Tob süchtigen, der einstweilen noch weiter tobt!!! einstweilen noch weiter tobt!!!, vom Hals Theurich 1977 (186) und Theurich 1979 (186) fälschlich: „Halse“. zu schaffen.

So kann ich also nicht nach Wien zurück!! Und deshalbSo ist die Frage meiner UebersiedlungÜbersiedlung durch diesen Unglücksfall, der die „force majeurmajeureFranzösisch für: „Höhere Gewalt“. spieltspielt, nicht mehr von meinem Willen abhängig, sondern ich stehe unter einem Zwang.

Trotzdem könnte ich nicht ohne weiteres einen so tollkühnen Streich, wie es diese UebersiedlungÜbersiedlung mit meiner Familie wärewäre, unternehmen, ohne daßdass ich eine Sicherheit habe, daßdass ich wenigstens eine Saison, solange bis ich mich eingearbeitet habe, in Berlin zuschauen kann.

Lieber Herr Busoni, mißverstehenmissverstehen Sie mich nicht: das ist kein „genialer“ Streich; kein VersuchVersuch, auf fremde Kosten schmarotzen zu wollen! keine AbsichtAbsicht, nicht arbeiten zu wollen und dgldergleichen mehr. Im Gegen teil: ich bin wohl einer der arbeitsamsten Men schen, die es heute giebtgibt! Wenn ich also so etwas fordern mußmuss, was die OeffentlichkeitÖffentlichkeit mir wegen meiner Leistungen wohl bewilligen solltesollte, ohne daßdass ich darum bitte, so tue ich es mit größtem Widerstreben! Trotzdem ich ein Anrecht darauf hätte!!

Nun aber steht die Sache so: Mein Geld geht zu Ende.Schönbergs finanzielle Situation hatte sich in den vergangenen Jahren zwar u. a. durch einen Zuwachs von Schülern gebessert, die wirtschaftliche Sicherung der Familie reichte dennoch gerade für die nächsten Monate aus. Im Sommer 1911 verschlimmerte sich die Lage durch die überaus dürftigen Verkaufszahlen seiner Werke beim Verlag Dreililien weiter; auch das für die musiktheoretischen Kurse an der Wiener Akademie gewährte Gehalt in Höhe von 400 Kronen reichte für eine finanzielle Stabilisierung nicht aus. Der ungeplante und noch dazu langwierige Aufenthalt der gesamten Familie Schönberg in Berg hatte die wirtschaftliche Situation drastisch verschlimmert und machte somit das Eingreifen von Unterstützern notwendig (vgl. weitere Kommentierung) (Stuckenschmidt 1974, S. 119 ff.). Ich hatte diese Theurich 1977 (186) und Theurich 1979 (186) fälschlich: „die“. hohen Kosten, die mich sonst ruiniert hättenhätten, durch Freunde auf gebrachtgebracht, und nur so war es mir möglichmöglich, vom 4. August bis jetzt hier zu leben.Der überraschende und ausgedehnte Aufenthalt in Berg hatte die finanziellen Mittel Schönbergs überstiegen. Kurzfristig organisierte Webern eine Summe von 1000 Kronen, zu denen er selbst, Berg, Jalowetz, Horwitz und Stein jeweils 200 Kronen beitrugen. Schönberg erhielt die Summe am 18. August (Brand (u. a.), 2007, S. 46). Außerdem wandte sich Schönberg an Hertzka mit der dringenden Bitte, ihm kurzfristig 1500 Kronen zur Verfügung zu stellen (Brief von Schönberg an Hertzka vom 23. Juli 1911). Dieser versprach unter Auflagen, 1000 Kronen auszuhändigen (Brief von Hertzka an Schönberg vom 25. Juli 1911); Cassirer versprach dieselbe Summe, Schönberg hatte 2000 gefordert (Stuckenschmidt 1974, S. 130). Des weiteren ging ein Gesuch an Bahr, mithilfe von Mäzenen 6000 Kronen im Jahr bereitzustellen (Brand (u.a.), 2007, S. 56).

AnfangsAnfang September mußtemusste müßte müsste Theurich 1977 (187) und Theurich 1979 (187): „müßte“. ich in Wien sein; Aber ich kann nicht. Und d in 14 Tagen werde ich nicht mehr das Geld zur Rückfahrt haben.

Bitte:, mißverstehen missverstehen Sie mich nicht: Ich pumpe Sie nicht an; im Gegenteil, [2] ich wünsche sogar, daßdass Sie sich selbst an der Geldbeschaffung nur durch Ihren EinflußEinfluss beteiligen und sonst durch nichts!!!!Busoni, der einen weitläufigen Bekannten- und Freundeskreis und somit einigen Einfluss besaß (Stuckenschmidt 1974, S. 143), setzte sich, sobald er von Schönbergs Umzugsplänen erfahren hatte, mit seinen Beziehungen stark für diesen ein (Stuckenschmidt 1974, S. 204). Zu diesen Kontakten zählten neben Kerr und Cassirer (Stuckenschmidt 1974, S. 136) u. a. auch van Dieren und Petri. Darüber hinaus vermittelte Busoni Steuermann als Schüler an Schönberg (Stuckenschmidt 1974, S. 143). Der wichtigste Kontakt dürfte jedoch derjenige zur damaligen Leiterin der Konzertagentur Wolff, Frau Luise Wolff, gewesen sein, der u. a. ebenfalls durch Busoni zustande gekommen war. Durch Vermittlung von Frau Wolff, die sich sofort zur Unterstützung Schönbergs bereiterklärte, führten in den kommenden Jahren Künstler wie Nikisch, Siloti, Mysz-Gmeiner oder das Rosé Quartett Werke von Schönberg auf bzw. vermittelten weitere Aufführungsmöglichkeiten (Stuckenschmidt 1974, S. 136 f.).

Aber um daß Theurich 1977 (187) und Theurich 1979 (187) stillschweigend: „das“. das bitte ich Sie: Ich habe keine Woche mehr Zeit Theurich 1977 (187) und Theurich 1979 (187) stillschweigend: „Zeit,“. Zeit, aber schreckliche Sorgen um die Zukunft. Schließlich, wir sind vier Per sonen; das ist nicht so einfach! Und warum soll ich, der Werte Theurich 1977 (187) und Theurich 1979 (187): „Werte“. schafft, im Dreck leben! Ich bitte Sie also um Eineseines: tunTun Sie das Äußerste bei Ihren Freunden und Be kannten für mich, aber vor Allemallem:

tunTun Sie es rasch!!

Es tut mir furchtbar leid, daßdass ich Ihnen mit solchen Sachen kommen mußmuss. Aber ich meine: einem Künstler, das ist einereiner, der ein Vollmensch ist, kann man mit Allem kommen. Und ich soll mich doch hoffentlich nicht an die Feinde wenden.Es ist unklar, ob es sich hierbei um eine konkrete Bezugnahme auf Personen handelt oder ob Schönberg hiermit eine mögliche Abkehr von seinen Umzugsplänen andeuten möchte.

Ich hoffehoffe, bald Nachricht von Ihnen zu habenhaben, und bin

mit vielen herzlichen Grüßen IhrArnold Schönberg (DeutscheStaatsbibliothekBerlin) Nachlaß Busoni