Brief von Ludwig Rubiner an Ferruccio Busoni (Berlin, 15. März 1919) Letter by Ludwig Rubiner to Ferruccio Busoni (Berlin, 15 March 1919) Ludwig Rubiner Prepared by Ivana Rajic Digitization by Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin Berlin Attribution-NonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften Briefe Briefwechsel Ferruccio Busoni – Ludwig Rubiner Christian Schaper Ullrich Scheideler Deutschland Berlin Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv Nachlass Ferruccio Busoni Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4289 Mus.ep. L. Rubiner 30 (Busoni-Nachl. B II) Kalliope-Verbund DE-611-HS-724485 Rubiner berichtet von seinem Einzug in Busonis Berliner Wohnung am Viktoria-Luise-Platz, seiner Unzufriedenheit mit dem politischen Parteiverlag Cassirer und seinem Eintritt in den Verlag Kiepenheuer; er bittet Busoni darum, diesem seine Opern Doktor Faustus, Arlecchino oder Die Fenster (I, II) und Turandot zur Herausgabe anzuvertrauen; zusätzlich schlägt er ihm vor, eine Auswahl seiner Lieblingsnovellen von E. T. A. Hoffmann zu veröffentlichen. Dieser Brief wartet mit einigen Überraschungen auf. 6 Blatt 12 beschriebene Seiten Der Brief ist gut erhalten. Hand des Absenders Ludwig Rubiner, Brieftext in schwarzer Tinte, in lateinischer Schreibschrift. Hand des Archivars, der die Signaturen mit Bleistift eingetragen und eine Foliierung vorgenommen hat. Hand des Archivars, der die Zuordnung innerhalb des Busoni-Nachlasses mit Rotstift vorgenommen hat Bibliotheksstempel (rote Tinte) Der Brief wurde in Berlin am 15. März 1919 verfasst.

Erfassung von Briefen und Schriften von Ferruccio Busoni, ausgehend von Busonis Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin · Preußischer Kulturbesitz.

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1 Berlin, d. 15. März 1919 Mus.ep. L. Rubiner 30 (Busoni-Nachl. B II) Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4289 Lieber! Deutsche Staatsbibliothek Berlin

Dieser Brief wartet mit einigen Überraschungen auf. Die erste ist, dass meine Adresse nun lautet: Berlin W.30. Viktoria Luiseplatz 11 IV. Dass ich in Ihrem grossßen Zimmer bei der Arbeit sitze, und dass Emma Fital soeben im Nebenzimmer denkbar peinlich rein macht. —

Bald nachdem ich Rita wieder gesehen hatte, schien es dieser (ernstlich ganz aussßerordentlichen) Ver walterin Ihres Haushaltes während Ihrer Abwesen heit Angesichts der immer bedrohlicheren internationalen Lage floh Busoni im Oktober 1915 in die Schweiz, genauer gesagt in die Züricher Scheuchzerstraße. Nachdem der Krieg im November 1918 beendet war, nahm Busoni seine internationale Konzerttätigkeit wieder auf. Erst im September 1920 kam er zurück an den Viktoria-Luise-Platz, um eine Meisterklasse für Komposition an der Akademie der Künste zu unterrichten. – und schien es auch mir – aus mehreren Gründen am besten zu sein, wenn ich in Ihre Wohnung zöge, bis auf Weiteres, das heissßt: bis auf Ihre hoffentlich baldige Wiederkunft, oder bis auf Ihr Veto. – Ich tat dies zunächst ohne Bedenken, weil Sie selbst mir in Zürich die Schwierig keiten als mehr berlinischer Art und vor allem durch Rita zu entscheiden dargelegt hatten. Die drei Gründe waren: 1.)Erstens, der persönliche Grund: Dass Ihre Wohnung der herrlichste Arbeits platz von der Welt ist, voll von Wundern, 2 draussßen vor den Fenstern, wobei immer wieder das mMerkwürdigste von allen die Kuppel der peterskirchlichen Gasanstalt der AugsburgerstrasseAugsburger Straße 1895 wurde im östlichen Abschnitt der Augsburger Straße (heute Fuggerstraße) ein 81.000 Kubikmeter umfassender Gasbehälter errichtet. Dieser wurde 1944 im Zweiten Weltkrieg zerstört und Anfang der 1950er Jahre abgerissen. ist. Die Wohnung ist überhaupt merkwürdig. Ich wohnte erst im Hotel, dann bei Bekannten, äussßerst traurig, so dass es nichts mit der Arbeit war und ich krank wurde. Kaum zog ich endlich (nach sorgfältigster Vorbereitung durch Rita und Emma) in Ihre Wohnung, wurde ich gesund und arbeitete drauf los. – Der 2.)zweite Grund: Im Hause (wie auch in Ihrer Wohnung, dort glücklicherweise ergebnislos) war mehrmals eingebrochen worden. Alle Beteiligten atmeten auf, als sie hörten, es bestehe die Möglichkeit, dass ein (zuverlässiges) männliches Individuum sich in der Wohnung aufhalten werde. 3.)Drittens: Es besteht die Möglichkeit, sogar die Wahrscheinlichkeit, dass in nächster Zeit schon grossße Wohnungen, vor allem solche, von denen mehrere Räume leerstehenleer stehen , an obdachlose Familien aufgeteilt werden. Das Deutsche Reich sah sich bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert mit einem zunehmenden Wohnungsnotstand konfrontiert. Mit der Weimarer Republik setzte ein grundlegendes Verständnis der Notwendigkeit staatlicher Interventionen hinsichtlich des Wohnungsmarktes ein, weshalb Maßnahmen im Bereich Mieterschutz, Mietpreisregelung und öffentliche Wohnraumbewirtschaftung getroffen wurden. Im Artikel 155 der Weimarer Verfassung heißt es beispielsweise: Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Art und Weise überwacht, die Missbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern. Und so halte ich die jetzige Kombination (wie Rita auch) für eine ausgezeichnete Fürsorge – da man ja nicht wissen kann, ob nicht der gerade zufällige Dezernent über das betr.betroffene Viertel böswillig ist, oder schlecht geschlafen hat, oder irgend etwasirgendetwas dergleichen, z. B. nationalwahnsinnig. Ich jedenfalls glaube, die Dinge sichern zu können. —

In Zürich haben Sie mir merkwürdig richtig prophezeit. Abgeraten vom Journalismus und angedeutet eine Existenz, die nicht von der Produktion des Talents abhänge. Ich, sonst ein sehr schlechter Boden für Lebensregeln, bin doch diesem Rat, der starken Eindruck auf mich machte, gefolgt. Ich fand, dass meine Angelegenheiten sich so wendeten, dass ich als geisti ger Leiter in einem grossßen Verlag eintrat, und zwar mit einem 3 B II, 4289 so hohen Honorar, wie es wohl selten ein deu tscher Schriftsteller für eine solche-freie-Tätig keitsolche freie Tätigkeit je bekommen hat. Materiell geht es mir also gut! (Ich hoffe, dass Sie ein solches Wort in allen Briefen, die Freunde von irgendeinem Punkte der Welt an Sie schreiben, antreffen könnten!) Ich schreibe Ihnen das – so unwichtig es für die Hauptdinge ist – weil ich weissß, dass es Sie erfreuen wird. —

Die Geschichte, wie ich Leiter dieses Verlages wurde, ist aber wiederum seltsam. Ich suchte den Verlag Cassirer auf. Und da erlebte ich den aller, aller allerschlechtesten Eindruck, den ein Mensch in der Welt bekommen kann. Mir wurde sofort klar, dass wir in der Schweiz alle ganz ungenügend unterrichtet waren. Erstens ist der Verlag Cassirer ein politischer Verlag. Er bekommt seine Druckaufträge z.T.zum Teil von der Regierung, die sie nur des Buchhandels wegen mit der Marke dieses Verlages herausgeben liessß. Zweitens aber ist er ein noch mehr politischerpolitischerer Verlag insofern, als er auch noch der geistige Unterstützungsverlag der sog.sogenannten Unabhängi gen soczialistischen Partei Gemeint ist die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs aus der Spaltung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) aufgrund von Meinungsunterschieden hinsichtlich der Kriegskredite hervorging. Um die Abgrenzung von der USPD zu betonen, bezeichnete sich die SPD als Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD). ist, und er ist also ein politischer Parteiverlag, dermassßen, dass alles was heute (wo die Regierung die diesbezügl.diesbezüglichen Druck aufträge voraussichtlich nicht mehr geben wird, d.h. die mehrheitssozialistische Regierung) im Verlage Cassirer erscheint, automatisch als zugehörig zur U.S.P. (unabhäng. socz. Part.unabhängigen sozialistischen Partei) gerechnet wird. So blüte mir die unerbetene Überraschung, gerade an dem Tage, als ich nach 4 Berlin kam, Am 30. Januar 1918 kehrt Rubiner über München zurück nach Berlin, nachdem der gebürtige Berliner 1915 als radikaler Kriegsgegner in die Schweiz geflüchtet ist. grossße Teile meines Voltaire-Aufsatzes aus den Weissßen Blättern Rubiners Artikel Der Dichter Voltaire erschien 1919 in den Weißen Blättern. Diesen wird er im gleichen Jahr noch im ersten Band seiner und Frida Ichaks Übersetzungen von Voltaires Romanen und Erzählungen als Vorwort veröffentlichen. ohne meine Erlaubnis Deutsche Staatsbibliothek Berlin abgedruckt zu finden in der Tageszeitung Freiheit, dem Partei-Organ der Unabh. Socz.Unabhängigen Sozialisten. Die Tageszeitung Die Freiheit trug den Zusatz Berliner Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands, und erschien von 1918 bis 1922 sowie erneut von 1928 bis 1931 (die USPD bestand ebenfalls bis 1931). Mein Einspruch wurde mit Befremden abgewiesen. Die Weissßen BläWeißen Blätter erschienen im Verlag Cassirer,; Von Februar 1919 bis Dezember 1920 wurden die Weißen Blätter vom Paul Cassirer Verlag in Berlin herausgegeben. der Verlag Cassirer sei Parteiverlag, und was da erschiene , könne abgedruckt werden. – Nun gehöre ich erstens dieser Partei nicht an (wie keiner Partei!), und zweitens, selbst wenn ich ihr angehören wollte, müsste ich mir doch das Recht wahren, dies nach meinem eigenen Willen tun zu können, nicht aber auf Grund eines schlechten und ausbeuterischen Verlagsvertrages mechanisch als Glied dieser Partei zu gelten! Dies war das eine im Verlage Cassirer. Das andere aber war mein wiederholter Eindruck, dass ein Autor, der im Verlage Cassirer erscheint, zwar gelegentlich ein Honorar bekommt, aber in der Tat zum Vergessen verurteilt ist. In diesem Verlage ist keine Person, die etwas von Büchern versteht, oder sich dafür interes siert. Cassirer ist politisch interessiert, Paul Cassirer war bis 1915 überzeugt davon, dass der Krieg zur Verteidigung der deutschen Unabhängigkeit notwendig sei. So gründete er die wöchentlich erscheinende Zeitschrift Kriegszeit. Im darauffolgenden Jahr veränderte sich Cassirers Einstellung, sodass die Kriegszeit 1916 durch die neue Zeitschrift Der Bildermann, an der Leo Kestenberg beteiligt war, ersetzt wurde. Seit der Novemberrevolution gab Cassirer als Mitglied der USPD Schriften sozialistischer Politiker und marxistischer Theoretiker heraus. er ist seinem Talent nach ein Bilderhändler ersten Ranges und beschäftigt sich mit dem Verlag überhaupt nicht, er schiebt alles auf Kesten berg ab. Kestenberg ist lediglich für seine Person interessiert, er gieibt Musikunterricht, er sitzt in der Volksbühne, er sitzt täglich im Kultusministerium, und er macht auch Fettflecke im Verlag CassirerLeo Kestenberg war als überzeugter Sozialdemokrat vor allem kulturpolitisch engagiert. Er war musikalischer Leiter der Berliner Freien Volksbühne. Er setzte sich für die Demokratisierung der Künste ein und organisierte in diesem Rahmen zahlreiche künstlerische Veranstaltungen, beispielsweise Mittagskonzerte für die Arbeiterschaft. Seit 1916 war er durch die Kunstzeitschrift Der Bildermann mit dem Cassirer Verlag verbunden. Ab 1918 war er zudem als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Preußischen Kultusministerium aktiv. 1920 wurde er zum Referenten der Kunstabteilung berufen und leitete die Musikabteilung für Erziehung und Unterricht. aber seine Tätig keit besteht darin, seine Person möglichst gut zu sichern. Er tut nichts und schiebt wiederum alles ab auf einen Herrn Reif, den 5 B II, 4289 engagierten Buchhändler des Verlages, der jung, langsam, untätig und ungebildet ist wie alle neueren Buchhändler. So kommt es, dass Sie in den Buchhandlungen nur jene vier politischen Schriften aus dem Verlag Cassirer sehen, die in der Novemberrevolution Die Novemberrevolution, die sich in der Endphase des Ersten Weltkriegs ereignete, führte das Deutsche Reich von einer konstitutionellen Monarchie in eine parlamentarisch-demokratische Republik, genauer gesagt die Weimarer Republik. die Regierung dort herstellen liessß, und für deren Vertrieb und Propa ganda wohl auch die Regierung selbst sorgte. Von den Dichtungen des Verlages sieht man nichts, von ihnen singt kein Lied, kein Heldenbuch. Den allerschlechtesten Eindruck machte mir aber Kestenbergs Verhalten, als ich ihn über Ihren Faust interpellierte. Er tat, als wisse er nichts! Er grunzte erst Das inte ressiert mich! (Wie gütig: das interessierte ihn!) Als ich aber ernst wurde und den Schwindel mit der angeblichen Bestellung neuer Typen festnagelte, wurde er unruhig und musste sich plötzlich von Prof.Professor Gaul verabschieden, der sich in irgendeinem Raume des Hauses aufhielt. Deutsche Staatsbibliothek Berlin

Da ich nun sicher bin, dass sich in ernsten Angelegenheiten stets ein Gaul oder ein anderer Esel im Hause befinden wird, der gerade im passenden Moment die Dinge nicht zur Klarheit kommen lassen wird, so verliessß ich das Haus mit dem Entschluss, meine Beziehungen zum Verlage Cassirer zu lösen. Diesen Entschluss führte ich dieser Tage auch aus, sandte Cassirer das Geld, das ich plötzlich, nach Monaten, von ihm erhielt, zurück, und war ihm nur noch eine Summe schuldig, die ich in der Schweiz 6 von ihm erhalten hatte. Sie können sich denken, dass mich diese ganze Sache recht deprimiert hatte. In dieser Stimmung traf ich mit dem Verleger Kiepenheuer zusammen, über den wiederum ich nicht richtig informiert gewesen war, trotzdem ich den Voltaire für ihn gemacht hatte. Der Verlag Kiepenheuer hat nämlich nicht allein eine sehr grossße Menge ausgezeichneter Bücher erscheinen lassen, sondern auch das kostspielige Kunstblatt Das Kunstblatt wurde von 1917 bis 1933 vom Gustav Kiepenheuer Verlag herausgegeben. Die Leitidee Das Kunstblatt will der werdenden Kunst dienen legt die Programmatik der Zeitschrift offen: Sie dient allen voran als Sprachrohr der zeitgenössischen Kunstströmungen. eine Zeitschrift, die in glanz vollen Reproduktionen sich mit ältester, mit exotischer, indischer, aeägyptischer und neuester Kunst beschäftigt, und vor allem auch eine Reihe von ganz kostbaren Luxus drucken. Kiepenheuer empfing mich, wie der Legende nach in alten Zeiten Verleger Künstler empfangen haben sollen: Alles Peckuniäre war ihm selbstverständliche Nebensache, die ebenso schnell wie klar – nach dem Wunsche des Autors! – verlegt wurde. Die Hauptsache war ihm ein reizender Empfang nach dem anderen, ausgezeichnete Bewirtung und leicht phfantastische Diners. Kurz , ich fühlte mich im Paris der Goncourt-Zeit, Gemeint sind die Brüder Edmund (1822-1896) und Jules de Goncourt (1830-1870), die im Bereich des Romans als Führer der naturalistischen Schule gelten. Sie, die durch ihren Urgroßvater in den Adelsstand erhoben wurden, vertraten, gemeinsam mit Gustave Flaubert, die rechte, aristokratische literarische Strömung und Lebensweise. in der ein Verleger es als eine menschlich interessante Ehre betrachtet, mit dem Autor kostspielig speisen zu dürfen. Dabei erzählte ich dem Kiepenheuer meine Unzufriedenheit mit Cassirer, setzte ihm auseinander, worin die Sünden solcher Dinge bestehen, sprach auch über Unterlassungen 7 B II, 4289 seines Verlages mit ihm, und der Schluss war seine Idee: Kommen Sie in meinen Verlag. Das nahm ich an, denn erstens war ich nach den Erfahrungen des Hauses Cass.Cassirer aufgeputscht und ich fühlte das Bedürfnis, dass nun endlich ein Verlag da sei, der über grossße Mittel verfüge, auf den man wirklichen Einfluss hat, so dass keine Unsinn geschehe, dass nur künstlerisch wertvolle Werke mit internatio nalem Weltgesicht erschienen, und dass man für diese Werke etwas tut – wie der Ausdruck heissßt. Nämlich dies ist doch der Sinn! Auch wenn in den kommenden Jahren in der Welt überall alles drunter und drüber geht, mit Hüilfe dieses Verlages – unabhängig von jeder CKonjuncktur die Werke zu halten und durchzusetzen. – Ande rerseits sah ich auch in dieser Möglichkeit die Lösung meiner eigenen finanziellen Fragen, da ja der Eintritt in den Verlag unabhängig von meinen Produktionen ist, und so besprochen wurde, dass ich reiche Zeit und Kraft zu meiner eigenen Arbeit behalte. Wiederum mit meinen Vorstellungen von einem modernen Verlage war Kiepenheuer völlig einverstanden. – Ich komme nun zu einem sehr wesentlichen Punkte, der Sie betrifft.

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Ich habe mir erlaubt Kiepenheuer das Kesten bergCassirersche Verbrechen gegen Ihren Faust zu berichten.

Kiepenheuer wäre sehr froh, ich darf sagen: glücklich! – in seinem Verlage dieses Werk als vorbildlichen 8 Luxusdruck erscheinen zu lassen. Busonis Doktor Faust wurde im Jahr 1920 vom Gustav Kiepenheuer Verlag in Potsdam herausgegeben. Er betrachtet es als selbstverständlich, das Hono rar, das sie eventuell mit ihm vereinbaren würden, zu zahlen, und aussßerdem die Ablösung jener Summe, die Cassirer Ihnen dafür gab, zu übernehmen! (Rita sagte mir etwas von 3000 FrsSchweizer Franken Die Abküzrung geht vermutlich auf die französische (Franc suisse) oder italienische (Franco svizzero) Schreibweise zurück. betr.betreffend Cassirer. Wenn Ihnen das irgendwie passte, bitte natürlich genaue Angaben.)

Ich, Ludwig Rubiner, übernehme die moralische Garantie, dass der Luxusdruck nicht nur sofort in Angriff genommen wird, sondern auch nach Ihren Wünschen ausgeführt.

Weiter bitte ich Sie: Haben Sie Lust, und haben Sie sovielso viel Vertrauen zu mir, dass Sie diesem Verlage – unter der Garantie der Aufsicht durch meine Person – für eine wundervolle, international hochstehende und unnaturalistische dramatische Bibliothek Gemeint ist wahrscheinlich die 1936 entstandene Gustav-Kiepenheuer-Bücherei. Das Ziel dieser Buchreihe war die Publikation klassischer Literatur sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart, die zum unverlierbaren Schatz der Weltliteratur gezählt werden dürfen. (die als einzelnes Buch schon wunderbar wird) Ihren Arlecchino und Arlecchino II und Ihren Parnass Gemeint sind wahrscheinlich die ersten beiden Sätze von Busonis Arlecchino oder Die Fenster sowie sein Werk Turandot. Den Bezug zum Parnass, der in der griechischen Mythologie das Reich der Dichtkunst symbolisiert, stellt auch Hans Huber in einem Brief an Busoni vom 5. Dezember 1916 her. So gratuliert er diesem zum Aufstieg auf die sonnigen Höhen des Parnass; er bezieht sich auf ein Werk, das in Zürich aufgeführt werden soll. Es liegt nahe, dass er auf Turandot verweist, da dieses Werk gemeinsam mit Arlecchino oder Die Fenster am 11. Mai 1917 im Stadttheater Zürich uraufgeführt wurde. zur vorbildlichen Herausgabe anvertrauen würden? Und ferner: Ihre literarischen Schriften — — Alle in bleibenden B II, 4289 Ausgaben nach Ihrem Wunsch und nach Ihren Honorarforderungen. — [9]

Ich wäre sehr froh, wenn Sie bald Zeit fänden, mir darüber ein paar Worte zu schreiben. Um Ihnen einen Begriff vom Verlage Kiepenheuer zu geben, wollte ich Ihnen erst die Luxusaus gaben selbst senden lassen. Es stellte sich heraus, dass sie vergriffen sind, und so werden Sie sich mit einem Verlags verzeichnis begnügen müssen.

Was meine eigenen Wünsche angeht, so will ich, dass dieser Verlag der erste, anständige moderne Verlag Deutschlands wird: Nicht so eisern lang weilig und staubnaturalistisch wie S. Fischer; nicht so liederlich und mit Amerikanismus in der Reklame wie Kurt Wolff, und nicht so indifferent und tatenlos wie Cassirer. Und überdies hat er grossßes Kapital, und der Verleger verspricht sich selbst nur etwas davon, sein Geld in so etwas hineinzustecken. Und noch eins: Würden Sie selbst im Verlag K.Kiepenheuer eine Hoffmann-Ausgabe machen wollen – Auswahl ihrer Lieblingsnovellen in einem (dicken) Band? Busoni schrieb die Einführung zu E.T.A. Hoffmanns Phantastische Geschichten, die jedoch bereits 1914 erschienen ist. Ein weiterer direkter Zusammenhang zwischen einer Hoffmann-Ausgabe und Busoni war nicht auffindbar. Nicht vergessen!

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Als ich die deutsche Grenze überschritt, fiel mir auf, dass alle Menschen so reines Deutsch sprachen, selbst wenn es bayrisch war; dass alle so freundlich und zuvorkommend waren, selbst in der Eisenbahn. Manches, vor allem Zeitungsberichte, hat uns eine 10 falsche Vorstellung vermittelt. Es gieibt überall CZigarren und CZigaretten, nur teuer. Es gieibt ein Bierli, das tausendmal besser ist als das von Hürli. Es gieibt, im Schleichhandel, sogar Bohnenkaffee. – Die Menschen sind im Ganzen und Grossßen williger als früher, nur vollkommen uninformiert, über das was sie erwartet, und z.T.zum Teil über das, was war. Sie glauben heute noch genau wie früher, ihrer Lügenpresse. In Berlin fällt einem zunächst auf: Eine unwahrscheinlich grossße Zahl von Autos; eine aussßerordentliche Gross-StadtzahlGroßstadtzahl von Menschen in den Strassßen; eine wunder bare Schnelligkeit im Denken und Antworten (z.B. auf der Strassße). Die Verhältnisse sind voll von Böswilligkeit. Was in diesen Wochen an furchtbaren und grausamen Gemetzel vor gekommen ist, die entsetzlich, blutdürstige und tierische Roheit gegen ahnungslose und dumpf, unterernährt dahinlebende Unterdrückte, Gemeint sind die sogenannten Märzkämpfe, die aufgrund der Enttäuschung über die politische Entwicklung der Revolution von 1918/1919 herbeigeführt wurden. Anfang März 1919 weiteten Anhänger der Kommunistischen Partei Deutschlands einen Generalstreik zu einem bewaffneten Aufstand aus, mit dem Ziel, die Reichsregierung zu stürzen. das lässt einem die so berühmte Bartholomäusnacht Die Bartholomäusnacht bezeichnet ein Massaker an den Hugenotten in Frankreich, das in der Nacht zum 24. August 1572 begann. als eine Lappalie der Weltgeschichte erscheinen. Es scheint, man hat in den vergangenen vier Jahren noch zu wenig gesiegt, und man will durchaus weitersiegenweiter siegen. — Die wirtschaftlichen Verhältnisse sehe ich für das kommende halbe Jahr ohne Optimismus an. Wenn Sie im Herbst kommen könnten, so, dass Sie Ihre – für Ihre Lebensfreude – unumgäng lichen Bedürfnisse befriedigen können, ohne allzu wucherische Preise zu bezahlen, Die Inflation des Deutschen Reichs, die durch die Ausweitung der Geldmenge zur Beseitigung von Staatsschulden in der Weimarer Republik sowie die Finanzierung des Ersten Weltkriegs herbeigeführt wurde, hat sich mit dem Ende des Krieges angebahnt und in der Hyperinflation von 1923 ihren Höhepunkt gefunden. 11 B II, 4289 so würde ich mich sehr freuen. Ihrer Aufnahme als geistigen und künstlerischen Führers Führer der Generation seien Sie sicher. Das hat alles gestimmt, was Rita davon in Zürich sagte; noch mehr, Sie müssen sich die Masse, in denen das geschehen wird, noch viel, viel grössßer vorstellen, als man es sich in der bescheidenen Zürcher Luft gewöhnt. In den nächsten Jahren wird wohl Berlin doch der geistige und künstlerische Mittel punkt von Europa werden, so wie es in den sechziger bis achzigerachtziger Jahren Paris war. Darauf deutet mir heute hier alles. An Rita habe ich eine grossße Überraschung erlebt. Sie bewegt sich in Berlin ganz natürlich, ist nicht hysterisch, ist nett und klug, hat ausgezeichnete und sympathische Bekannte, sie ist in ihrer natürlichen Luft und garnichtgar nicht mit der Zürcher Rita zu vergleichen. Und zu allem war Sie wirklich eine so ausgezeichnete Verwalterin der tausend Dinge Ihrer Wohnung, dass ich nur staunen kann.

Alles hängt hier nun von der Deutsche Staatsbibliothek Berlin Entwicklung der Ereignisse im Sommer ab. Vorläufig haben die Leute leider noch ein zu grossßes Vertrauen zu… ja, Sie werden das nicht für möglich halten, 12 zur Entente, obwohl sie an diesem Vertrauen verhungern! Dieses Vertrauen wird, wie ich vermute, von offizieller Seite zu partei politischen Zwecken geschürt; da es aber noch eine Briefzensur gieibt, kann ich mich wohl über diese Dinge wie über einige andere nicht auslassen. —

Noch eins: Dass ein Mensch wie Bruno Goetz nicht in Berlin ist, ist verbreche rische, dumme Idylle. Er muss nicht ver hungern, er würde genug verdienen, dafür könnte ich, zum Teil, sorgen; und hier ist sein Platz, hier hat er zu arbeiten, wenn er nicht verkommen will. (Niemand muss ver hungern: Selbst Goetzens Familie, die sich von lächerlich kleinen Summen erhält, isst mit ihren vier Personen ganz ordentlich; ich besuchte sie.) Jedenfalls ist höchste Zeit, dass er hier lebt. Die Pumpstation Zürich ist Unsinn. —

Meine Frau war nur kurze Zeit in Berlin. Sie fuhr auf ihr Besitztum, wo ihr Vater starb, und von dessen Beschaffen heit – ganz?, zerschossen?, verkommen? oder blühend? – wir uns keine Vorstellung machen konnten. Ich erhielt eine, wie es scheint, nicht unerfreuliche Nachricht von ihr. Sie wird in den nächsten Wochen wieder eintreffen.

Und nun umarme ich Sie und die liebe Frau Gerda und Lello und – vielleicht ist er schon in Ihrer Nähe – Ihren Benni!

Der Ihre in Freundschaft und Dankbarkeit Ludwig Rubiner
Berlin W.30. Viktoria Luisenplatz 11.
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